Gleich an ihrem Geburtstag schreibt Marie auf ihrem neuen geprägten Briefpapier einen „Bedankmichbrief“ an Anita Gantlik. Der Jugendfreundin ihrer Mutter vertraut sie all die Veränderungen an, die mit deren bevorstehender Heirat mit D. E. auf sie zukommen werden. In der neunundvierzigsten Lektürewoche geht es deshalb um „die rote Anita“, mit der sich Jerichow-Erzählung und New Yorker Gegenwart immer weiter annähern.
***
***
„Bedankmichbrief“ an Anita Gantlik (21. Juli 1968)
Am 21. Juli 1968 wird Marie Henriette Cresspahl elf Jahre alt. Zum ersten Mal feiert sie nicht mit einer Kindergesellschaft, sondern mit ihrer Mutter und D. E. Der hat den Geburtstag für sie ausgerichtet, denn „wenn wir Prag hinter uns haben“, wird ihre Mutter ihn heiraten, und sie müssen „es lernen zu dritt“. D. E., Anita als Erichson bekannt, wirft sich ordentlich ins Zeug. Er singt nicht nur das Lied, „mit dem in Mecklenburg die Geburtstagskinder geweckt werden: Ich freue mich, daß du geboren bist“. Er kümmert sich um Kerzen – die für das Jahr des Kennenlernens 1962 ist „geringelt angemalt“ – und Blumen, sie bekommt eigenes Briefpapier und dazu eine Art Schnitzeljagd für ihre Geschenke im Riverside Park:
„Wer nun die Augen offen hat, sieht neben dem Stamm ein Päckchen liegen, in Buntpapier mit Schleifen, das hätte der anständigste Mensch geklaut, so appetitlich sah das aus. Gib es auf. Wir werden ewig im Dustern tappen, wie er das dahin geschmuggelt hat. Ich habe mich hinter ihm gehalten, ein Wurf scheidet aus. Gib es auf.“

Im Päckchen befindet sich ein Armband mit Namen, Blutgruppe und Rhesus-Faktoren der Eltern, denn das „kann auch ein tschechoslowakischer Arzt lesen“. Im nächsten Päckchen an der Memorial Fountain liegt ein elektronischer Taschenrechner, und dann kommt ein weiteres (nicht im eigentlichen Sinne) Geschenk: die Wohnung am Riverside Drive in der Höhe der Columbia-Universität, wo das „Ehepaar Cresspahl-Erichson“ leben wird. Marie weiß sehr genau, dass die Arithmetik von zwei (ihre Mutter und sie) plus eins sich ändern wird. „In der neuen Wohnung gehört er zu der Zwei, ich bin die eins.“ D. E. scheint das auch zu wissen, und so hat die neue Wohnung einen eigenen Bereich für Marie, mit Bad, Telefon, Schlössern und Ausblick auf den Hudson.
Gastgeberin kann Marie dann auch sein, und so lädt sie Anita ein, bei ihr zu wohnen, wenn sie zur Hochzeit im Herbst nach New York kommt. Den „Bedankmichbrief“ schreibt sie aus zwei Gründen, weil sie nun das neue Briefpapier hat, aber vor allem, weil Anita „so genau“ nachdenkt „über andere Leute“. Sie hat Marie ein blaues Lederetui mit gravierten Initialen geschenkt, in dem sich eine Uhr befindet. Die ist in Maries Schule verboten, aber das Etui „werden sie unter der Uniformbluse nicht sehen“. Diese Heimlichkeit will Marie gern mit Anita teilen, doch einen erzieherischen Zweck des eingebauten Weckers weist sie von sich: „Denn ich stehe immer gleichzeitig mit Gesine auf“.
„weil sie kein einheimisches Kind war sondern ein Vertriebenes“ (23. Juli 1968)
Als Anita Gantlik in die neunte Klasse der Fritz-Reuter-Schule eintritt, muss sie schon lange auf eigenen Füßen stehen. Mutter und Geschwister sind bei Kriegsende ums Leben gekommen, als Elfjährige wurde sie von drei russischen Soldaten vergewaltigt. Sie hat einen Vater, „der sie zurückließ in der bäuerlichen Knechtschaft und seinen Sold von der Polizei in Jerichow für sich behielt, als wünsche er der Tochter ein Verkommen und Verrecken“. Diesem Vater verdankt sie auch ihre Staatsbürgerschaft, denn der Nazi-Sympathisant hatte seine polnische Familie nach der Besetzung Polens zu „Reichsbürgern“ erklären lassen, „weil ihm das gefällt, wie deutsche Panzer ein deutsches Dorf flachlegen“.
Dennoch schafft Anita es auf die Oberschule in Gneez, und sie schafft es auch, aus der bäuerlichen Knechtschaft herauszukommen, denn sie übersetzt für die russischen Soldaten, auch während der Schulstunden. Sogar eine Wohnung in Gneez bekommt die Oberschülerin auf diesem Weg; nachdem sie eine recht nichtsnutzige Tante aus dem Ruhrgebiet zu sich geholt hat, kann sie sich sogar ihres väterlichen Vormunds entledigen.
Als bei ihr im Alter von sechzehn Jahren eine verschleppte Gonorrhoe festgestellt wird, behandelt sie in der Seuchenbaracke eine Ärztin, „die konnte sie sich leicht vorstellen mit einem Hakenkreuz am Kittel. Denn Anita wurde angefahren, als sei sie schuld, weil eine andere zu Tage getreten war. […] Anita wurde beglückwünscht, weil sie davongekommen war ohne Schmerzen: – stellen Sie sich nicht so an.“ Diese Wort richten sich an eine Sechzehnjährige, deren Diagnose bedeutet, sie wird keine Kinder bekommen können. Anita läuft aus der Seuchenbaracke davon und liegt die ganzen Sommerferien über krank im Bett. Danach befreit sie sich vom Opfertum ihrer Tante, schließt ihr Zimmer ab und trägt Kleider erwachsener Frauen, „mit Stoffen aus Wolle und reiner Rohseide“, auf Annäherungsversuche reagiert sie kühl mit der Frage: „Wozu?“

Freundin und Patin (22. bis 24. Juli 1968)
Anitas Bekanntschaft mit Gesine verläuft zögernd und muss lange ohne das Geständnis einer Freundschaft auskommen. Anita fühlt sich fremd an der neuen Schule, zu ihren Mitschüler*innen sagt sie die falschen Dinge, und sie orientiert sich nicht an der eigenen Klasse, sondern an den Jahrgängen darüber: „Haben wir einander bekannt, als Freundinnen bestimmt zu sein? Wir haben uns gehütet.“
1949 wird Anita gemeinsam mit Marie Abs die Patin von Alex Brüshaver. Anhand ihrer Patenschaft (und den jeweiligen Geburtstagsgeschenken) nimmt Uwe Johnson im Eintrag zum 24. Juli 1968 eine Zeitraffung vor, in der sich die Jerichow-Erzählung und die New Yorker Gegenwart berühren. Altmodisch sind ihre Geschenke. Weil sie kein Taufgeschenk für ihr Patenkind hat, verkauft sie 1950 zum ersten Geburtstag ihr Fahrrad und erwirbt einen Serviettenring mit Gravur, zum zweiten Geburtstag gibt es einen Schal, für den sie eigens lernt zu stricken, und die Einschulung 1955 wird nicht mit Süßigkeiten, sondern mit einem Füllfederhalter begangen. Nach 1956 aber werden die Geschenke weltlicher: Ein Taschenmesser und ein Fahrrad stehen nun auf der Geburtstagsliste.
Erst als Anita 1952 nach Westberlin gegangen ist, gestehen Gesine und sie sich ihre Freundschaft, und Anita ist ihr eine gute Freundin:
„Als Jakob zu Tode gekommen und begraben war, betrug Anita sich harsch zu mir, die Patin. Sie meinte, eine Anwesenheit auf dem Friedhof wäre mir nützlich gewesen.“
Zu Anitas Verdruss tritt Gesine aus der Kirche aus, wird Marie nicht getauft, doch das Patenamt für die vaterlose Tochter ihrer Freundin tritt sie trotzdem an, denn „wenn sie enttäuscht war und betrübt“ über die Nicht-Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche, „so unsretwegen.“ Vor beider Umzug nach New York besuchen sie Anita in Westberlin, weil Gesine den „Emigranten aus karelischen Landen“ begutachten soll, der Anita heiraten will. Vor allem will die wissen, ob er die Kinderlosigkeit tatsächlich wird ertragen können, zu der ihre Geschlechtskrankheit sie verdammt hat. Das Urteil der Freundin fällt offensichtlich positiv aus, denn die Hochzeit mit Aggie Brüshaver als zweiter Trauzeugin und Alex im Konfirmationsanzug wird eine festliche Angelegenheit.
„Marie dachte an Berlin noch lange als eine von windigem Sonnenlicht durchflutete Stadt, dahin fährt man zum Heiraten.“

Nach dem Mauerbau beteiligt sich Anita an der Fluchthilfe, davon erzählt Johnson an einem früheren Jahrestag; er nutzt dafür seine Recherchen für einen geplanten, aber verworfenen Text über Fluchthelfer. Das Patenamt für Alex wird nun nicht länger persönlich ausgeübt. An der Biographie des Jugendlichen wird sichtbar, was die Diktatur anrichtet: Obwohl er der Sohn eines ehemaligen KZ-Häftlings ist, darf er als Sohn eines Pfarrers (der er eben auch ist) nach dem Abitur nicht wie gewünscht Mathematik studieren und erhält seinen Einziehungsbescheid zur Nationalen Volksarmee. Seine Republikflucht über Stettin missglückt, er wird „zu drei Jahren Gefängnis in Sachsen verurteilt“ und kann seiner Patentante nicht mehr schreiben. In Sachsen waren die Gefängnisse Leipzig, Torgau, Waldheim und Bautzen. Was aus Alex wird, erfahren die Leser*innen des Romans nicht mehr.
Als Maries Patin will Anita das Mädchen lieber auf der amerikanischen Schule in Westberlin wissen, während Gesine Cresspahl in Prag die Geschäfte für ihre Bank erledigt:
„Als sei auch sie verabredet, mir die Č. S. S. R. darzustellen als ein Land, dahin nimmt man kein Kind mit; das gibt man einer Patin.“
***
Literatur:
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.
Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.