In der Fritz-Reuter-Oberschule spitzt sich die Situation unter der neuen linientreuen Schulleiterin Bettina Selbich zu, Gesine Cresspahl gerät in den Verdacht, mit sozialismuskritischen Flugblättern die Schule eingepackt zu haben. Auch im Deutschunterricht gibt es keine Freiheit von Inhalt, keine Freiheit zu räsonnieren. In New York trifft Gesine Cresspahl derweil Vorkehrungen für Maries Zukunft, falls es eine ohne sie werden sollte. Variationen der Farbe Gelb rahmen diese fünfzigste Wochenlektüre.
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Variationen der Farbe Gelb (1. August 1968)
„Nie so viel Gelb gesehen wie hier“ – so wird in den „Jahrestagen“ die Frage beantwortet, was denn anders sei in New York. Der Eintrag vom 1. August 1968 listet Variationen der Farbe Gelb im Stadt- und Sprachbild New Yorks auf. Deshalb ist diese Lesung mit Bildern und Zitaten zu diesem Tag geschmückt. Doch zunächst die Farbe Gelb als sprachliche Metapher:
„Als Gelber gilt hier ein Eifersüchtiger, ein Neidhammel, ein Melancholiker, ein Abtrünniger, einer wie Brutus, weil er eines Ehrenswerts ermangelte. Gelbe Leute sind hier welche zum Verachten, gelb heißen die Boulevardblätter so wie die gelbe Bildzeitung, und Gelbeichen gibt es und gelbe Barsche.
Die Gelben, das sind die, die unterbieten einen, die gehen gelbe Verträge ein; die treten keiner Gewerkschaft bei als einer gelben.
Wenn einer hier gelbt, so gibt er an, er markiert den starken Mann.“

Freie Deutsche Jugend (28. und 30. Juli 1968)
An der Fritz-Reuter-Oberschule hat inzwischen Rips aka Bettina Riepschläger, verheiratete und wieder geschiedene Selbich die Direktion übernommen und führt ein unrühmlich hartes Regime. Stets mit dem blauen Hemd der Freien Deutschen Jugend angetan, verlangt „das blonde Gift“ von den eigens examinierten Teilnehmenden des Pfingsttreffens in Berlin, von „den westlichen Sektoren der Stadt sich fernzuhalten“. Pius Pagenkopf aber fotografiert die Parteisoldatin höchstselbst vor einem Westberliner Schuhgeschäft.
„Als sie Pius wahrnahm und die Kamera an seinem Auge, muß ihr aufgegangen sein mit Pein und Schmerzen: keinen einzigen Schüler aus Gneez konnte sie eines friedensverräterischen Abstechers nach Westberlin bezichtigen, solange einer von ihnen ein Foto besaß, das überführte die Jugendfreundin [die Anrede in der FDJ] und Frau Direktor als Opfer der kapitalistischen Verführung auf der Zirkulationsebene.“

Für die „Genossin“, gegen die Pius und Gesine das Foto nicht weiter einsetzen, kommt es allerdings nach der Rückkehr aus Berlin noch ganz dicke: Nicht nur zu ihrer Begrüßung ist Gneez nach dem Pfingstfest übersät mit regimekritischen Plakaten.
„Abgebildet waren da Angehörige der Freien Deutschen Jugend in Formation […] dazu die Erkundigung an die F. D. J.-ler wofür sie denn marschieren. Die erwünschte Auskunft war so unausweichlich vertraut, Pius hatte auf das Weiterlesen verzichtet“.

Die Schüler*innen werden wegen der Plakataktion von Selbich in der Schule festgehalten und reihenweise zum Einzelverhör bestellt, danach kehren sie nicht mehr in die Klasse zurück. Gesine findet im Regenmantel im Flur einen Zettel von Anita Gantlik, mit dem sie sich zumindest etwas auf das Verhör vorbereiten kann, bevor die „Verdiente Aktivistin“ und Schulsekretärin Elise Bock ihr „den Fetzen … weggrapscht“, um sie zu schützen. Als Gesine beim Verhör umständlich erklärt, wo die Geschwister-Scholl-Straße in Schwerin ist, flippt die „Jugendfreundin“ aus:
„– Sei endlich still Gesine! Die nimmt euch auf den Arm, Genossen, diese Göre, dieses … Biest! kreischte Bettina Selbich, die brachte ihr blaues Hemd fast gänzlich ins Flattern mit einer einzigen Faust, diese erhoben. […] Der Fremde bemühte sich um die Genossin. Ihre Nerven, gnädige Frau, ein harter Tag, Schlag gegen unsere Weltfriedensbewegung, beruhigen Sie sich, wenn Sie wollen im Vorzimmer …“.
Nachdem Selbich das Verhör verlassen hat, geht es etwas ziviler zu, von den Geschwistern Scholl kommt man auf das Thema Flugblätter. Die Stasi hat beobachtet, wie die Flugblätter nachts angekommen sind und „an vier Verteiler“ gingen. „Einer von denen hat Ihre Oberschule verarztet, und möchten Sie gern diejenige gewesen sein, Fräulein Cresspahl?“ Das möchte das Fräulein Cresspahl nicht und weist als Alibi die Ankunft mit dem „Milchholerzug“ aus, „als die Schule schon verpackt war“.

Sie übersteht das Kreuzverhör über die Familie, Freunde, Jakob Abs, Anita Gantlik („evangelischer Neigungen überführt“), die „Neigung der Kollegin Selbich zu dem Abiturienten Siebold“, erst beim Wort „Stacheldraht […] fiel die Schülerin Cresspahl in eine einzige Pause“. Sie denkt an Verhaftete und Verschollene aus ihrem Bekanntenkreis – einen Mitschüler, der für die Zeile „Wenn bei Capri die rote Flotte im Meer versinkt“ vier Jahre ins Zuchthaus muss; an Axel Orth, der Kupferdraht geschmuggelt hat und dafür eine dreijährige Strafe verbüßt, „um das Verlies war ein Draht gezogen mit Stachel“; und an den trotz Immunität von der Stasi verhafteten KPD-Bundestagsabgeordneten Kurt Müller, der „saß auch an diesem Abend hinter Mauer und Draht“. Die „Jugendfreundin Cresspahl“ fängt sich noch rechtzeitig und „wiederholte nach ausführlichem Besinnen: ihr sei kein Stacheldraht aufgefallen. Nach den Marschzielen der F. D. J. befragt, gab sie die gewünschte Antwort.“ Ihre Schule wandelt sich zunehmend zu einer Schule der Diktatur.
Denken lernen mit Fontane (2. August 1968)
Es gibt aber auch Ausnahmen, etwa in der Person des Praktikanten Mathias Wegerich, der die Klasse Elf A Zwei zwar fast das ganze Jahr über mit Fontanes „Schach von Wuthenow“ traktiert, allerdings auch selbstkritisch eingesteht, an „Führer und Reich“ geglaubt zu haben. Der setzt nun also Fontanes weniger bekannten Roman auf den Lehrplan und nimmt mit seinen Schüler*innen die – man kann es wohl ein very close reading nennen – Lektüre auf. Historische Hintergründe, Sprache, Ehrbegriff, Kapitelüberschriften und die „viel beseufzte Luise“ werden ebenso auseinandergenommen wie die Frage „Wer ist der Erzähler? Wie benimmt er sich in seiner Tätigkeit?“ Warum das Buch heißt, wie es heißt, nämlich: „Fontane wünschte seinen Leser unabhängig.“ Ob ein Urteil über den heiratsunwilligen Schach gefällt wird, fast ein Jahr lang wird der Roman auf Herz und Nieren geprüft, bevor man ihn noch einmal mit „Genuß und Freude“ lesen soll.

Doch dann schlägt auch hier die neue Deutungshoheit zu, diesmal im Gewand einer Zeitschrift – „Form hieß sie, oder Sinn“ – in der Georg Lukács den Roman als „‚Geschenk des Zufalls‘“ bezeichnet. „Die darin geübte Kritik am preußischen Wert sei ‚absichtslos‘, sei ‚unbewußt‘“. Dieter Lockenvitz hat das Heft aus Berlin mitgebracht und liest den Aufsatz der Klasse vor, zum Entsetzen Wegerichs, der nach einer Woche Abwesenheit „Jenny Treibel“ auf den Lehrplan setzt. Alle haben verloren, das von Lockenvitz erhoffte intellektuelle Duell kann nicht stattfinden, von Wegerich erfährt die Klasse später, dass seine Dissertation über den „Schach von Wuthenow“ in Göttingen erschienen ist. Der Mensch, bei dem die Klasse „das Deutsche lesen gelernt“ hatte (und nicht nur das), ging dem sozialistischen Bildungssystem verloren.

Am Strand mit den Blumenroths (3. August 1968)
Gesine Cresspahl fragt sich in den Wochen vor der Abreise nach Prag, wo sich die politische Situation immer weiter zuspitzt, nicht von ungefähr, wer sich um ihre Tochter Marie kümmern könnte, sollte ihr etwas zustoßen. Sie denkt dabei auch an die Familie Blumenroth, mit der die beiden Cresspahls nach dem Einbruch am Riverside Drive 243 an den Jones Beach geflohen waren. Pamela Blumenroth, bei deren Anblick die Tochter „strahlt“, ist „eine Gefährtin für Marie zum Weiterleben“. Schon jetzt benimmt sie sich wie ein „Zweitgeborene“ an Maries Seite.
„Das wird eine praktische nette Frau. An Klugheit fehlt es; unverrückbar richtig ist sie. Das wollen wie alles sehen. Auf Pamelas Hochzeit wollen wir gehen.“

Ihre Mutter würde „ein deutsches Kind annehmen zur Tochter als Pflege“, davon ist Gesine Cresspahl überzeugt. Das ist bei dem, was „wir“ von Mrs. Blumenroth „wissen“, keineswegs selbstverständlich:
„Jahrgang 1929. ‚Ich komme aus den Karpaten.‘ Ja, sie ist geholt worden von den Deutschen. Ohne etwas mitnehmen zu dürfen. Die Kleider schon.
Ankunft in New York 1947, Heirat 1948. Die Angst, unfruchtbar gemacht zu sein. Pamela, 1957.“
Mrs. Blumenroths Vater hat die Shoah nicht überlebt.
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Literatur:
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.
Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.
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Seit fast einem Jahr ist Ihr blog ein wöchentliches Stelldichein, und hat viel Lese-Freude gezeugt. Leider bin ich genauso zögerlich wie die anderen Leser, und daher gibt’s kaum Antworten.
Vielen Dank für Ihre interessanten billets, ich werde sie vermissen wenn das Jahr bald um ist. Ich hoffe es hat auch Ihnen Spass gemacht.
aw
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Kann man den kompletten Texte der Folgen 1 – 53 bald auch als Broschur-Fassung erwerben ?