Kurz vor Gesine Cresspahls Abreise nach Prag wird uns Wichtiges berichtet: über das Schicksal von Mrs. Ferwalter, den Prozess gegen den Mitschüler Dieter Lockenvitz, Gesines Weggang in den Westen, aber auch die Ankunft ihrer Tochter Marie. Vorletzte Lektürewoche.
***
***
„In Mauthausen wurde ich befreit“ (11. August 1968)
Kurz vor Gesine Cresspahls Abreise nach Prag wird das bislang nur angedeutete Schicksal ihrer Nachbarin Mrs. Ferwalter konkret. Ausgelöst wird die Erinnerung der Nachbarin, weil sie zu Maries Abschiedsgesellschaft „Passovergebäck“ mitbringen will und dessen Geschmack beschreibt – Marcel Proust lässt grüßen. „Wir haben es zuletzt zuhause gebacken im vierundvierziger Jahr.“ Mrs. Ferwalter stammt aus Transkarpatien, heute der westlichste Teil der Ukraine, mit dem Vertrag von Trianon kam das Gebiet 1920 zur Tschechoslowakei, nach deren Auflösung 1938 zu Ungarn. Zwischen April und Juni 1944 wurde die Bevölkerung aus diesem Gebiet deportiert, auch Mrs. Ferwalter, obwohl sie einen „katholischen Paß“ hat, „mit katholischer Religion“.
„Wir kamen nach Auschwitz. Ich war da acht Monate. Die meisten kamen gleich ins Krematorium. Viele von den Aufsehern laufen noch frei herum, und man staunt wo. So wie wir hier sprechen habe ich mit dem Mengele geredet.
Ich wurden selektiert ins Magazin als Einweiserin.“
Mit diesem „Vernichtungsvokabular“ (wie Alexandra Kleihues die kursiv gesetzten Begriffe nennt) beschreibt Mrs. Ferwalter ihr Leben in Auschwitz, das nur durch die Fürsprache der Geliebten der Leiterin des Frauenlagers „Frau Gräser“ gerettet wird. Denn als Mrs. Ferwalter einer Dreizehnjährigen Suppe bringt und von einer „Kapo“ verraten wird, sagt Gräser: „Sie werden jetzt erschossen. Rief einen Posten herbei.“ Gemeint ist vermutlich Irma Grese, die 1945 von einem britischen Gericht zum Tode verurteilte Aufseherin der Lager Ravensbrück, Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen, die als besonders brutal bekannt war. Mrs. Ferwalters Erinnerungen sind an die Zeugenaussage Magda Szabos vom 24. August 1964 im Frankfurter Auschwitzprozess angelehnt, die wie Mrs. Ferwalter in der Lagerküche arbeitete.
„Das Urteil wurde umgewandelt in eine Stunde Kniens auf Schottersteinen, zwei Steine dabei in erhobenen Händen. Es dauerte viele Wochen bis die Knie wieder ihre Form hatten. […] Bei der Bestrafung wurde mir eine Bahn durch das nachwachsende Haar geschoren. Ich ging hin und ließ mir gleich alles abschneiden. Einundzwanzig Jahre war ich.“
Bei der Arbeit in der Küche sind die Nachtschichten kaum zu ertragen, denn Mrs. Ferwalter ist in unmittelbarer Nähe von sieben Krematorien tätig, am „Ende der Nachtschicht war der Himmel rot wie Feuer“ und sie hört Hilfeschreie noch Lebender. Für sie ist das eines ihrer furchtbarsten Erlebnisse während der Shoah:
„Das eigentlich Schlimme war: daß die Deutschen die Juden zwangen, einander umzubringen. Verwandte ins Feuer zu werfen bei lebendigem Leib.“

In Mauthausen wird Mrs. Ferwalter befreit, später geht sie nach Israel, wo sie auf die Kapo trifft, die sie verraten hat. Sie unternimmt nichts, die Kapo kommt dennoch für ein Jahr ins Gefängnis, weil eine andere ehemalige Inhaftierte sie erkannt hat. Für ein Mädchen aus ihrem Heimatdorf, ebenfalls Kapo geworden, sagt Mrs. Ferwalter vor Gericht im positiven Sinne aus. Sie artikuliert dabei ihre Ambivalenz so: „Sie ist eine alte Freundin, sie ist ein böser Mensch.“ Gemeinsam mit ihrem Bruder wagt sie einen Neuanfang in der Tschechoslowakei; als der beim Schwarzmarktkauf erwischt wird und ein halbes Jahr Haft droht, gehen die beiden nach New York. Eingereist sind sie 1948 noch über Ellis Island.
DDR-Justiz (12. August 1968)
Wie ein Echo auf den Tageseintrag vom 2. April 1968, den Uwe Johnson mit „Justiz in Mecklenburg während des Nazikrieges“ bezeichnet, mutet der 12. August 1968 an. Am Vortag des Mauerbau-Gedenktags, auf den auch die New York Times hinweist, wird die DDR-Justiz thematisiert. In Briefen an „ausgewählte Haushalte in Gneez, zwei auch in Jerichow“, beschreibt ein anonymer Absender Verhaftungen und Verurteilungen durch Sowjetische Militärtribunale (S.M.T.) und Sondergerichte. Sie vermerken zudem, wer „verschwunden“ ist. In nur wenigen Fällen werden die Gründe für eine Anklage erwähnt. Nach und nach ergibt sich so eine „vorläufige Liste zur Justiz in Mecklenburg“, deren Teile von unterschiedlichen Orten aus verschickt werden. Johnson stützte sich bei den Angaben auf Thomas Ammers Buch „Universität zwischen Demokratie und Diktatur“.

Auffallend sind drei Dinge: wie jung die Verurteilten sind, es handelt sich mehrheitlich um Schüler*innen und Student*innen; die Höhe der Haftstrafen – fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeitslager sind keine Seltenheit; das Verhängen der Todesstrafe, die 1950 wiedereingeführt worden war. Unter den Opfern auch Karl-Alfred Gedowsky, ein ehemaliger Schüler der John-Brinckmann-Schule in Güstrow, der 1952 in der Sowjetunion hingerichtet wurde, „seine Familie erfuhr nichts über sein Schicksal. […] Erst nach der Öffnung der Archive der frühen Sowjetunion konnten Verbleib und Todesumstände von Karl-Alfred Gedowsky aufgeklärt werden“, ist im Band „Orte des Erinnerns“ zu lesen. An Gedowsky erinnert heute eine Gedenktafel an seiner ehemaligen Schule.
Verschickt hat die Briefe Gesines Mitschüler Dieter Lockenvitz. Trotz seiner Vorsichtsmaßnahme, sie an wechselnden Orten aufzugeben, wird er zu Beginn der Weihnachtsferien 1951 verhaftet, nach den Ferien dann seine Mitschülerinnen Gesine Cresspahl, Annette Dühr und Anita Gantlik. Jakob Abs hat Gesine die Briefe weggenommen und „von einem Dritten in der Gewerkschaftsleitung der Eisenbahner bei Gneez“ aufbewahren lassen. In der Haft muss sie täglich drei Stunden stillstehen – „Heben Sie den Kopf! Strecken Sie die Arme! Halten Sie die Handflächen gerade.“ – und dann täglich einen Lebenslauf verfassen und dessen Fortschritte gegenüber der letzten Version diskutieren. Nach zehn Tagen wird sie entlassen und von Jakob, der sich um ihre Entlassung bemüht hat, bei ihrer Rückkehr umarmt, „als sei ihm das eine Gewohnheit mit ihr“. Ihre Mitschülerin Annette Dürr ist weniger glimpflich davongekommen, denn sie war vor der Wohnung von Dieter Lockenvitz gesehen worden. „Das Glas auf ihrer Uhr war zerbrochen. Auf dem Rücken hatte sie blaue Striemen von Schlägen. Ihr fehlte ein Zahn.“ Mit Gesine wie auch mit Pius Pagenkopf hatte Lockenvitz acht Monate zuvor absichtsvoll öffentlich gebrochen, so dass ihr kein Kontakt mehr mit ihm nachgewiesen werden konnte.
1952 ist das Jahr von Gesine Cresspahls Abitur; die Reifeprüfung hat sie in ihrer Darstellung in diesem Sommer dreimal abgelegt. Als ihr erstes Abitur bezeichnet sie den Prozess gegen Dieter Lockenvitz, der in der Haft ebenfalls offensichtlich misshandelt wurde:
„Nun wurde er hereingeführt mit nacktem Gesicht, tat blind, stolperte; hing auf dem Sünderstuhl, als gehe schon das über seine Kraft. Der mochte den Kopf horchend halten, einen Blick auf uns vermied er. Weil ihm die oberen Vorderzähne abhanden gekommen waren, Schwierigkeiten in der Lautbildung.“

Von Mitschüler und Spitzel Gabriel Manfras wird Lockenvitz im Prozess verleumdet, wieder wird der Vorwurf erhoben, sich „ein Abitur zu erschleichen“, obschon es im diesem Fall „eines gewesen, wie es einmal vorkommt im Jahrzehnt [abgesehen von Chemie]“. Die Mutter des Angeklagten wird noch im Gerichtssaal verhaftet und wegen Mitwisserschaft und „Vernachlässigung der Erziehungspflicht“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, ihr Sohn zu fünfzehn Jahren, von dieser Strafe muss er zwei Drittel verbüßen. Die Versendung der Briefe geht weiter, und die Strafkammern beginnen im Sommer 1952 mit der Veröffentlichung der Urteile.
Der Mitschüler hatte „Für irgend welche Wahrheit“, und „sei sie eine erwiesene Tatsache“, eine Zukunft riskiert, in der er „eine Erlaubnis zum Studium hatte denken dürfen und mit Glück, einen Beruf nach Wahl“. Anfangs weiß seine Klasse noch, wo er inhaftiert ist, später verliert sich seine Spur. In einer Vorfassung von Band 4 der „Jahrestage“ sah Uwe Johnson nach der Entlassung auf Bewährung eine erneute Verhaftung wegen Badens im Sperrgebiet 1963 und wenig später die Auslieferung von Lockenvitz in den Westen vor, wo er nach dem Abitur an einer Hamburger Abendschule in Berlin Sprachwissenschaft studieren sollte.
„Wir haben ihn im Stich gelassen, den Schüler Lockenvitz. Damit Anita das letzte Wort werde: schuldig sind wir vor ihm.“
Gesine geht in den Westen (14. bis 17. August 1968)
Nach dem Abitur nimmt Gesine zum Wintersemester 1952/53 ein Studium der Anglistik an der Universität Halle auf, das ihr Vater finanziert. Die Freundin Anita Gantlik, hätte sich fast um das Abitur gebracht, weil sie den Beschluss des FDJ-Parlaments, „für alle Mitglieder sei der Dienst in der kasernierten Volkspolizei eine ehrenhafte Verpflichtung“, nicht mittragen kann. Sie wird unter den Argusaugen von Gabriel Manfras auf der betreffenden Sitzung von Gesine krank nach Hause geschickt und dadurch gerettet . So kann sie unmittelbar nach dem Abitur nach Westberlin umziehen, wo sie Slawistik studiert. In Halle wird Gesine täppisch bespitzelt:
„Der Junge gab sich als Bewerber, ging mir nach, traf auf die Kommilitonin mit dem Vorgeben einer Überraschung, nachts um elf auf der Preißnitz-Insel zwischen Wilder und Schiffs-Saale; hatte unwissentlich sich ertappen lassen beim Warten an der Brücke der Freundschaft. Der verriet sich bald, gab von Jerichow und Gneez Kenntnisse zu verstehen, wie sie schwerlich zum Alltag gehören fern von Mecklenburg.“
Als der „Schnüffler“ sie im zweiten Semester in einen Kreis einführt, der von ihr verlangt zu „helfen, daß es den anderen an den Kragen ging“, lehnt sie das mit nach außen feministischen Gründen (sie brauchte für die Aufnahme einen männlichen Bürgen) ab und bestellt sich Jakob nach Halle. Ihm erzählt sie zum ersten Mal von Ausreiseplänen, auch weil seit Mai 1952 die Schließung der Grenzen befürchtet wird. Im Juni 1953 gibt Jakob ihr einen Freifahrtschein nach Halle über Berlin, der ihr die Ausreise ermöglicht. Erst auf der Fahrt „ging ihr auf: Jakob hatte sie mit einer Rückfahrkarte ausgestattet“.

Den Sommer verbringt Gesine bei Anita in Berlin, die ihr eine Zuzugsgenehmigung besorgt, im Herbst will sie ihr Studium in Frankfurt am Main fortsetzen, doch: „Als ich auf die Gebührenkarte sah, gab ich auf.“ Sie macht eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin, denn: „Überhaupt wollte ich bloß die Sprache.“ Ausbildung und Lebensunterhalt verdient sie sich mit Jobs, unter anderem in der Küche der Sprachenschule. Zu Marie, der sie all das erzählt, sagt sie: „Hier hast du unsere Legende vom Tellerwäscher.“ Nach der Ausbildung zieht sie nach Düsseldorf-Flingern um, wohnt bei einer kommunistischen Vermieterin. Jakob kommt sie besuchen, die Tochter kommentiert: „Er hätte bleiben können.“ Aber er tut es nicht und kommt bei der Rückkehr ums Leben.
„Als der Selbstmord mir verboten wurde, war er beinahe vergessen.
– Wer hat denn dir etwas zu untersagen, Gesine?
– Das war eine kräftige Person. Wenn ich ihr einen Finger in die Handfläche steckte, machte sie eine Faust; […]. Eine zufriedene Person, schlief ausdauernd, wachte auf mit leisen Kehllauten. Vier Wochen später sah sie mich an, als vertraute sie mir.“
***
Literatur:
Thomas Ammer: Universität zwischen Demokratie und Diktatur. Ein Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der Universität Rostock, Köln 1969 (Nachdruck 1994).
Orte des Erinnerns: Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, hg. v. Annette Kaminsky, Ruth Gleinig, Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin 32016, S. 291f.
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.
Alexandra Kleihues, Gräser alias Grese? Die Jahrestage im Kontext des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, in: Johnson-Jahrbuch 13 (2006), S. 197-221.
Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.
Claudia Taake: Angeklagt: SS-Frauen vor Gericht. Diplomarbeit Uni Oldenburg, 1998, S. 50-66.
Danke
Danke, liebe Frau Förster. Schade, dass es nur noch einen Blog-Beitrag geben wird.
Vielen herzlichen Dank für Ihre freundliche Rückmeldung.