Auf der Promenade, der wesentlichen Einkaufstraße von Davos: Ein Vater beugt sich hinunter zu seinem vielleicht fünf Jahre alten Sohn; der Kleine steht stocksteif da, der Vater schimpft. Offenbar hatten die beiden gerade einen alten Bekannten getroffen, der Sohn aber hatte sich nicht ordentlich verabschiedet: „Und wenn wir gehen, sagen wir immer noch ordentlich ‚Tschüss‘!“, musste der junge Mann sich anhören.
Wer selbst Kinder hat, schmunzelt, wenn er einen solchen Moment mitbekommt. Denn die Vermittlung von Werten und richtigen Verhaltensweisen ist harte Arbeit. Jeden Tag neu, wieder und wieder.
Auf dem Weltwirtschaftsforum, das an diesem Sonntag zu Ende gegangen ist, war die Situation sehr ähnlich, auch wenn es um die große Politik ging: Das alte Europa schimpfte mit den jungen Vereinigten Staaten, was leicht war, denn auch Amerika stand nach der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten stocksteif wie ein kleiner Junge da, der sich nicht wehren konnte. Denn ein hochrangiger Vertreter, der zu dem moralischen Zeigefinger, der in Davos von beinahe allen anderen gegenüber den Vereinigten Staaten erhoben wurde, hätte Stellung beziehen können, konnte so kurz nach der Vereidigung Obamas noch nicht kommen.
Davon haben dann andere profitiert: Die Volkswirte zum Beispiel, die ratlos waren, wie es weitergehen wird, aber wenigstens die bisherige Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten und das gierige Verhalten vieler ihrer hochrangigen Wirtschaftsführer geißeln konnten. Profiteure waren aber auch der Russe Wladimir Putin und der Chinese Wen Jiabao, die in Davos gerne die Gelegenheit ergriffen, von der wahren Stabilität, Größe und moralischen Kraft ihrer Länder zu berichten. In diesem Zusammenhang wurde dann auch gleich eine Breitseite auf den Dollar als Leitwährung der Welt abgefeuert, die vermutlich zu wenig führen wird.
Der deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bot sich in Davos die Gelegenheit, für die Vorzüge der sozialen Marktwirtschaft zu werben, mit der Betonung auf „sozial“ – und damit auf dem Zusatz, der in Amerika bisher nicht en vogue war. Vielleicht schafft sie es ja tatsächlich, die Länder der Welt auf die von ihr vorgeschlagene „Charta des nachhaltigen Wirtschaftens“ zu verpflichten. Ob es aber zu einem „Weltwirtschaftsrat“ bei den Vereinigten Nationen kommen wird? Und ob so ein Gremium wirklich sinnvoll ist? Was bleibt aber ist der aus deutscher Sicht positive Eindruck, dass Deutschland auf der Weltbühne nicht mehr in Sack und Asche gehen muss. Diese Rolle haben zunächst die Amerikaner übernommen.
Nun wird sich zeigen, wie schnell es das Volk, das zwischen „sea und shining sea“ gerade in eine tiefe Rezession abgleitet, diese überwinden wird, um danach zu neuem Selbstbewusstsein zurückzufinden. Häufig haben die Amerikaner in dieser Hinsicht schon überraschende Wendungen hinbekommen. Und vielleicht hätten sie doch, gerade in diesen schwierigen Zeiten, einen hochrangigeren Vertreter der neuen Regierung auf die Bühne von Davos schicken sollen. Denn rhetorisch haben hier alle genannten Politiker keine Meisterstücke abgeliefert – und gemessen werden sie letztlich alle wieder an ihren Handlungen. Unten, im Tal des Alltags, in dem es darum geht, Regeln zu leben und in den Köpfen zu verankern.
Für sein Kind jedenfalls braucht der Vater in Davos keinen „Welterziehungsrat“, sondern einfach nur Erfolg in der Vermittlung des Wertekanons für die neue Welt nach der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise, in der sein Sohn aufwachsen wird.