Worin berichtet wird von Dampfmaschinen modernster Art, und gar beeindruckenden Rechenleistungen, wiewohl das Ergebnis hierzulande noch an Pünktlichkeit zu wünschen übrig läßt.
Mein erster Berufswunsch im Alter von etwa dreizehn Jahren war Stewardess. Ich wollte hübsch, blond, uniformiert und vielfliegend werden, mehr als alles andere. Mein bester Sandkastenfreund wiederum wollte – wie könnte es anders sein – Lokomotivführer werden. Früh entdeckte er sein Faible für Motoren und Maschinen, und mit sechzehn Jahren war er der erste unserer Klasse, der sich auf vier Rädern fortbewegte: er hatte sich einen Trecker gebastelt und durfte selbigen auch fahren. Ganz legal. Lokomotivführer wurde er dann doch nicht, sondern Maschinenbauer. Irgendwo zwischen unser beider Traumberufen gibt es aber auch noch den Beruf des Zugschaffners, und das stelle ich mir eher als Alptraum vor. Andererseits sind Zugschaffner natürlich auch oft genug des Fahrgasts Alptraum.
Unvergessen jene zwei Stunden, die ich vor einigen Jahren – bei einem jener völlig unerwarteten Wintereinbrüche zwischen Weihnachten und Silvester – am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe auf dem Gleis verbrachte. Wohlgemerkt, nachdem mich erstens ein freundlicher Bahnmitarbeiter davon abgehalten hatte, einen alternativen Zug zu nehmen und zweitens ein weniger freundlicher Bahnmitarbeiter mir schnippisch erklärt hatte, selbstverständlich könne ich im Café oben auf der Galerie warten – nur würde ich dann möglicherweise den irgendwann doch noch einfahrenden Zug verpassen. Nicht minder zuvorkommend war jener blauuniformierte Herr, der sich weigerte, eine einstündige Verspätung auf dem Fahrschein zu bestätigen, oder die Dame, die mich des relativ leeren Restaurantwagens verwies, weil ich nichts kaufen wollte – ich war nach zwei Stunden Verspätung und Verfall meiner Reservierung im falschen Zug gelandet, das beeindruckte sie jedoch nicht im mindesten.
Das einzig Gute an den besonders großen Katastrophenfahrten (die kleinen mit weniger als 30 Minuten Verspätung bedürfen gar keiner Erwähnung) sind die Momente plötzlicher Solidarität zwischen Fahrgästen. Der junge Mann, der zum ersten Mal von der EU-weit verpflichtenden Fahrpreiserstattung erfuhr und mich ansah, als hätte ich ihm einen Heiratsantrag gemacht. Die kleinen Blickwechsel, gemeinsames Lächeln, wenn nach zwanzig Minuten Stillstand auf der Strecke irgendwann eine verlegene, ungelenke Durchsage erfolgt. Dieses Gemeinschaftsgefühl vermisse ich in der Schweiz – hier sind alle nur stolz auf ihre Bahn, selten gibt es Anlaß zur Solidarität unter leidenden Gästen. Steht ein Zug mit Abfahrtszeit 14h19 im Gleis, so ruckt er pünktlich in dem Moment an, in dem der Minutenzeiger der Uhr auf die 19 springt. In Deutschland würde ich – aus leidvoller Erfahrung klug geworden – bei einer Verbindung mit Umsteigezeiten von weniger als zehn Minuten mindestens eine Verspätung einkalkulieren und entsprechend eine Stunde früher fahren. In der Schweiz, so habe ich inzwischen gelernt, ist das unnötig: die sprichtwörtliche Pünktlichkeit ist hier Realität.
Die Frage drängt sich auf: wie gelingt den SBB – bei vergleichbaren Preisen – was der DB so unmöglich zu sein scheint? Die Bahn weist solche Vergleiche immer weit von sich, die Schweiz sei ja soviel kleiner. Wieviel kleiner, drücken die Zahlen aus. Die Schweizer Bahn verbindet rund 800 Bahnhöfe durch gut 3.000 Kilometer Trasse. Die deutsche Bahn hingegen verwaltet 5.000 Bahnhöfe und ein Schienennetz von über 33.000 km. Das, muß selbst der kritischste Reisende zugeben, ist ein wirklich gewaltiger Unterschied. Vor allem in der Koordinationsleistung. Den Schweizer Fahrplan kann ich mir durchaus noch auf einem tapetengroßen Fahrplan vorstellen – den deutschen nicht mehr. Das Kursbuch der Bahn – vor einigen Jahren übrigens abgeschafft – war ein Wälzer, für den es einer eigenen Reisetasche bedurft hätte. Heute macht das die Rechenmaschine.
Diese Rechenmaschine hat viel zu tun. Neben den Bedürfnissen der Bahn gilt es all die kleinen unabhängigen Streckenbetreiber zu berücksichtigen, Steigungen und Gefälle, Höchstgeschwindigkeiten, die Angemessenheit der Triebwagen, Bremsvermögen, Wartezeiten und Umsteigezeiten. Die Vorbereitung eines neuen Fahrplans beginnt mehr als ein Jahr vor der eigentlichen Umstellung, alle oben genannten Daten werden in ein System eingespeist, es folgen die diversen Trassenwünsche aller Netzteilnehmer und dann rechnet der Computer. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie diese Aufgabe vor zehn und zwanzig Jahren bewältigt wurde – inzwischen jedenfalls kommen Algorithmen zum Einsatz.
Algorithmen nach heutigem Verständnis sind, vereinfacht gesagt, Ablaufpläne zur Lösung eines Problems, ursprünglich gehen sie jedoch zurück auf einen vermutlich weder bildungsfernen noch bildunfsfeindlichen Araber und Muselmanen namens al-Chwarizmi (محمد بن موسى ابو جعفر الخوارزمي) zurück, aber das trug sich 1.200 Jahre vor unserer Zeit zu, als wir bildungshungrigen Europäer gerade erst von den Bäumen gekrochen waren und uns aufmachten, die Welt nach unserer Vorstellung zu prägen.
Zurück zum Algorithmus: es gibt viele Formen in vielen Fachgebieten mit vielen verschiedenen Namen. Der Fahrplan der Bahn ist grundsätzlich ein Optimierungsproblem. Es gibt unzählige theoretisch mögliche Lösungen, aber vermutlich nur eine kleine Zahl optimaler Lösungen, gemessen an diversen Zielparametern. Diese Lösungen unterscheiden sich, je nachdem ob man sich möglichst kurze Wartezeiten, möglichst kurze Reisezeiten, oder möglichst sparsamen Ressourceneinsatz wünscht (ein Schelm, wer vermutet, Kunden- und Bahnwünsche könnten divergieren). Sind diese Zielparameter festgelegt, erhält der Rechner über den Algorithmus Anweisung, wie er zur Lösung des Problems vorzugehen hat, meist indem er verschiedene Analyse- oder Arbeitsschritte immer wieder wiederholt oder neuberechnet, bis eine Lösung gefunden ist.
Einer der häufigsten Algorithmen – der zum Beispiel oft bei Routenplanern zum Einsatz kommt – ist der A*-Algorithmus. Existieren für eine Strecke A nach B verschiedene Routen, überprüft der Algorithmus nacheinander alle Streckenoptionen, unter Berücksichtigung verschiedener Knotenpunkte (zum Beispiel Autobahnkreuze) und gibt als Ergebnis eine Lösung aus: Je nach Zielvorstellung die kürzeste, schnellste oder billigste Verbindung. Wo allerdings eine Routenplanung mit dem Auto relativ wenige Dimensionen und wenige Optimierungsparameter hat, ist der Bahnfahrplan mit seinen 5.000 Umsteigebahnhöfen, tausenden von Gleisen und Weichen und Millionen von Passagieren unendlich viel komplexer.
Der neueste Schrei für solche vieldimensionalen Probleme mit vielen Lösungen ohne klaren Gewinnerkandidaten sind dabei „genetische Algorithmen”. Dabei werden die errechneten Lösungsvorschläge miteinander gekreuzt und nach Prinzipien ausgewählt oder eliminiert, die an die Evoluationsbiologie erinnern. Anders gesagt: der Rechner beginnt mit einer Anzahl berechneter Lösungen, sucht nach gegebenen Kriterien die besten heraus, ermittelt deren Eigenschaften und kombiniert daraus neue Lösungen – solange, bis ein befriedigendes Ergebnis vorliegt, auch wenn das mathematisch-analytisch nicht notwendigerweise das Optimum darstellen muß (das sich angesichts der Komplexität des Problems vermutlich im Moment – noch! – unseren Rechenkapazitäten entzieht.)
Ich wäre gerne mal dabei, wenn so ein Streckenfahrplan errechnet wird, ich würde gerne mal den Rechnern, Mathematikern und Bahnleuten über die Schulter schauen, zusehen, welche Parameter Priorität erhalten, Einblicke gewinnen in die enorme Logistik und Planung, die diesen riesigen Organismus Tag für Tag voran treibt und Deutschland verbindet. Auf jeden Fall aber werde ich mich das nächste Mal an den Aufwand erinnern und hoffentlich den Schaffner milde anlächeln, wenn er sich für die Verspätung entschuldigt. Und vielleicht habe ich sogar Glück, wie damals im ICE nach Stuttgart, als ich im Bistrowagen neben einem älteren Gnom von Mann saß, der einen Artikel über rote Waldameisen studierte. Er befand sich in jenem Zug, weil der vorherige verspätet war, wurde von einem freundlichen Schaffner vorbildlich über seine weitere Fahrt informiert, und erhielt sogar Verzehrgutscheine für Kaltgetränke. Als die Reihe an mir war, erklärte ich, ich säße nun leider ganz bewußt in diesem Zug (wie mein Ticket bestätigte) und hätte nichts zu klagen, würde mir aber wünschen, im Falle der nächsten Verspätung genauso fürsorglich behandelt zu werden. Woraufhin der Schaffner mein Ticket studierte und dann mit einem Augenzwinkern erklärte: „Junge Frau, die Verspätung ihrer Verbindung tut uns außerordentlich leid, und hier ist ihr Getränkegutschein.”