Es izt allein der Mensch im Tod, so viel steht fest. Allein: Ob er zuvor gelebet,
das soll seyn die Frage nun.
Denn schließlich ist ein Fest dem Narrennerd (hockt er vorm Rechner doch wie geknebelt!)
blosz Katzenquatsch, Rick Astley und Cartoon.
Der Komödie erster Teil
„Get a Life“ ist vermutlich eine der meistgebrauchten Beleidigungen im Netz. Der Vorwurf des einen Nerds an den anderen, kein Leben zu haben, also keins, das jenseits von Pizzadienst-Burritos, Cola Light und M&Ms, die allesamt halb hektisch, halb gedankenverloren vor dem Rechner verzehrt werden, existiert – während die Außenwahrnehmung durch den sonnenhellen Bildschirm längst dermaßen verzerrt ist, dass das legendäre „Draußen“ dem Internauten vorkommt wie ein fremder Planet: Dieser Vorwurf steht im Raum, seitdem es das Internet gibt. Wer ins Netz geht, der tut das mangels Alternativen in der Echtwelt, das Real Life ist ein Spielplatz, der zu unübersichtlich ist für den Klick für Klick durchs Leben stolpernden Surfer.
Schon in Douglas Couplands Roman „Microsklaven“, der das Leben von Microsoft-Angestellten (oder doch eher von Microsoft-Besessenen, die ihre Jobs vermutlich auch umsonst erledigen würden) schildert, geht es genau darum, dass es dieses Leben eher nicht gibt. Die einzige Nahrung, die konsumiert wird, ist solche, die man notfalls unter der Tür durchschieben kann denn niemals wird die Arbeit unterbrochen. Rund um die Uhr hocken die Mikrosklaven vor den Rechnern, aber doch arbeiten sie nie genug, denn die Deadline ist immer so gesetzt, dass sie nicht erreicht werden kann und so gelingt es den ihnen niemals, die alten Fehler in den Programmen zu korrigieren, sie ziehen also nach und nach einen undurchdringlichen Fehlerwust mit sich durch ihre Büroexistenzen, sie arbeiten und arbeiten und können es doch nicht gut machen, niemals wird die erlösende Mail von Bill (Gates) kommen, der hier als Deus Ex Machina fungiert und der so viel klüger und größer ist als seine Bürosklaven, der sie geschaffen hat, der geben kann und nehmen und doch nie von sich hören lässt. (Ganz nebenbei bemerkt ist Mikrosklaven übrigens eine ziemlich akkurate Erklärung für schwere Ausnahmefehler.)
Jene, die es irgendwie geschafft haben, ein Leben zu haben, werden von den Microsklaven glühend beneidet oder doch eher verwundert bestaunt. Ein Leben haben, das wird hier definiert als: Eine eigene Familie, einen Hund vielleicht sogar, ein Haus, Aktivitäten außerhalb der Arbeit, Angeln gehen möglicherweise oder sogar ein wenig Sport treiben (mit dem Körper, nicht mit dem Joystick). Microsklaven ist gerade einmal fünfzehn Jahre alt und doch scheint es furchtbar altmodisch, jemandem abzusprechen, ein Leben zu haben, bloß weil er immer arbeitet.
Die heutige Beleidigung „Get a life“ beinhaltet ja gerade den Vorwurf, man lebe auf Kosten anderer, beziehe seine Miete vom Amt oder wohne gleich im Dachboden der Eltern, weil eben tatsächlich gar nichts geht außer World of Warcraft und Twitter und ein bisschen Schimpfen in den Kommentarspalten von Blogs. Begegnet man sich nun im Netz, dann schwingt immer ein Vorwurf mit, den man auch aus Provinzdiscos kennt: Warum bist du hier, warum nicht irgendwo, wo das Leben tobt?
Der Mensch ist ein soziales Wesen, heißt es. Ich glaube, dass ich trotzdem ein Mensch bin. Meine Lebensqualität verhält sich nicht einfach antiproportional zur Zahl der außer mir den Raum bevölkernden Menschen, die Kurve sinkt erst dann dramatisch, wenn diese zu vielen Menschen auch noch mit mir in Kontakt treten. Meinem Bedürfnis nach Abgeschiedenheit kann ich in einem überfüllten Chatroom genauso gut nachkommen wie in einem überfüllten Club, ich könnte – wenigstens in der Theorie- einen ganzen Tag bei Facebook herumhängen, ohne mich behelligt zu fühlen.
Mein Tag sieht ungefähr folgendermaßen aus: Morgens trampelt meine Katze auf mir herum, um mir ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe mitzuteilen. Da meine Katze beschlossen hat, dass morgens um 5 Uhr nachts stattfindet, packe ich mir das haltlos schnurrende Fellbündel und bringe es in die Küche, schließe so sorgfältig, wie das jemandem, der die Augen geschlossen hat, möglich ist, die Tür, stoße mir entweder den großen oder den kleinen Zeh an einem Ziermöbel und rolle mich lautlos wieder in mein Bett. Drei Stunden später habe ich das Gefühl, geweckt worden zu sein, höre aber kein Geräusch. Gerade habe ich noch geträumt, dass mir die lang anvisierte Sektengründung endlich gelungen ist (es geht bei dieser Sekte hauptsächlich um Ausschlafen und Opferung von Katzen an einer heiligen Klippe) und nun liege ich da wie ein Artist in der Zirkuskuppel: ratlos.
Ich bekomme eine Ahnung, beschließe dieser Ahnung nachzugehen, und erwische meine Freundin im Wohnzimmer dabei, wie sie auf einer eigens für diesen Zweck erwobenen Matte arabisch anmutende Verrenkungen macht, die sie Pilates nennt.
Pilates wurde übrigens von Hubert Pilates erfunden, als er in Gefangeschaft war und es gibt nicht viel, das genauer darüber Auskunft gibt, wie meine Freundin sich in unserer eheähnlichen Gemeinschaft fühlt. Pilates war Turner, Bodybuilder und Taucher, ich bin Raucher. Ich schlurfe in die Küche, untersuche den Kühlschrank, aber mein Magen schläft sowieso noch. Meine Katze, vor wenigen Stunden noch die Zugewandtheit in Person, erkennt mich nicht und zeigt mir ihre Verachtung, wie es nur Katzen können oder meine Freundin, die sich nun aus erlesenen Zutaten ein Früchtemüsli bereitet, während ich, meine Appetitlosigkeit ignorierend, eine gigantische Flunder von einem Brot mit Nutella schände. Lebt man mit einer Katze und einer Frau zusammen, dann ist das eigene Selbstbild das eines Barbaren im Kolosseum: Überall wird gepflegt gespeist, vornehm gehüstelt und gleich kommt ein Mastino Neapolitano und reißt einem die Eingeweide heraus. Der durchschnittliche Mastino, der sich an meinen Eingeweiden vergeht, ist der folgende Satz meiner Freundin, zuverlässig ausgesprochen um zehn Uhr morgens: „Komm, wir gehen ins Café, schreiben kannst du ja überall.“
Jeder Mensch glaubt, ein Autor könne überall schreiben und da meine Freundin ganz fraglos ein Mensch ist, schließlich ist sie ein außerordentlich soziales Wesen, ist sie vom Gegenteil nicht zu überzeugen: Es gibt tatsächlich einen einzigen Ort, an dem ich schreiben kann – in völliger Abgeschiedenheit vor meinem Rechner.
Ich sitze dann also im Café, klappe zur Selbstermunterung und -beruhigung meinen Rechner auf, wirke aber nicht arbeitend genug und daher sprechen mich Bekannte an. Bekannte unterscheiden sich von Freunden dadurch, dass man sie zwar kennt, sie aber keine Freunde sind, und somit empfinde ich Gespräche mit Bekannten im Jahresdurchschnitt als anstrengend. Beliebte Bekanntengesprächsthemen sind Behördengänge, vergebliche Geschlechtsverkehrsbemühungen, das Wetter und die Arbeit.
Um es deutlich zu sagen: Da ich mich für Wetter, Behörden und Arbeit noch weniger interessiere als für fremder Leute Sex, sitze ich also im Café und denke angestrengt über die Frage nach, warum Hänschen Klein, neuste Flamme meiner Bekannten Rose N. Rot, nicht anruft. Plötzlicher Todesfall? Schweinegrippe? Handyverlust? Nachdem ich meine Stirn lange genug in Falten gelegt habe, verweise ich auf den Film He‘s just not that into you, der auf dem Beziehungsratgeber He‘s just not that into you basiert, der wiederum auf eine Zeile aus Sex and the City referriert, in der Miranda klar wird, dass ein Mann, der sich nicht meldet, vielleicht einfach nicht so arg interessiert ist (dieses Blog ist in geschlechtergerechter Sprache geschrieben – Mann heißt hier auch Frau, Transgender, Queer und umgekehrt).
Kaum hat meine Freundin genug Kaffee getrunken, ausreichend Zeitungen geblättert und Freundinnen an den Schultern berührt, was oft schon nach drei, höchstens vier Stunden der Fall ist, werde ich ins Sportstudio gezerrt, wo unmenschlich kräftige Homosexuelle mir ungefragt Hinweise zur Verbesserung meiner Trizepsdehnung geben.
Dann sitze ich in der Sauna, erfahre mehr, als ich je wissen wollte, über Börsenkurse, Volkswirte, die sich in Rassekunde versuchen und Frisuren, später erklärt mir mein Weinhändler die demographische Entwicklung Schönebergs (90% über 80 Jahre alt – der Mann ist Perser, im Persischen sind Zahlen auch bloß Worte) und schließlich bin ich beinahe einen Moment alleine, aber meine Freundin braucht genau jetzt eine Creme aus dem Badezimmer und dann kommen Freunde.
Freunde unterscheiden sich von Bekannten dadurch, dass man sie mag, sie aber erst dann richtig kennenlernt, wenn sie nicht gehen wollen. Gegen drei bin ich dann tatsächlich allein, ich fahre den Rechner hoch, schreibe ein paar Zeilen, gehe auf Facebook und ein Wildfremder, dessen Freundschaftsantrag ich bedenkenlos angenommen habe, chattet mich an: Was ich denn um diese Zeit bei Facebook mache? Ob ich denn als Blogger eigentlich gar kein Leben habe?
Ich schlage eine Art Lebensvermutung vor. Begegnet man jemandem im Netz, möge man sich vorstellen, dieser Mensch sei gerade auf einer rauschenden Party, hat sich zum Laptop, aus dem erlesene elektronische Musik dröhnt, durchgeschlagen, nur um uns wissen zu lassen, dass er unsere Haltung zum öffentlich-rechtlichen Fernsehangebot ablehnt. Oder er kommt gerade vom Überlebenstraining aus dem Dschungel, loggt sich bei einem Zwischenstopp in Addis Abeba nach einem abenteuerlichen Verhandlungsmarathon mit dem Besitzer in einem Internetcafé unter Beobachtung einer Hyäne ein und twittert: Endlich wieder online.
Der Mensch vor dem Rechner: Er könnte ein Leben haben.