Nirgends hin / als auff den Mund /
da sinckts in deß Hertzens Grund.
Nicht zu frey / nicht zu gezwungen /
nicht mit gar zu fauler Zungen.
So wolle er geküsset seyn.
Paul Fleming
Morgen bin ich definitiv erkältet. So oft, wie ich am heutigen Vormittag schon geknuddelt, abgeknuscht und liebkost wurde, behalte ich meine blühende Gesundheit nicht für mich. Eines der Lausemädchen in meiner Twitter-Timeline wird mir die erste Herbsterkrankung auf die Wange hauchen. In Wahrheit freut es mich.
Während all diese Liebesbekundungen mich in der keimfreien Welt des Netzes umarmen, beobachte ich das Treiben verzückt und in sicherer Entfernung hinter der Scheibe meines Rechners. Das Netz ist nicht nur ein üppiger Spielplatz für das Pornographiepublikum, auch der liebesbedürftige Mensch an der Maus kommt auf seine Kosten. In E-Mails, auf den Pinnwänden sozialer Netzwerke, in Tweets und in Blogeinträgen verteilen die Autoren munter Herzen, Liebe, Hugs and Kisses.
Die Kommunikation in getippten Küssen in der virtuellen Welt bewahrt dort eine Kulturtechnik der Beziehungspflege zwischen Menschen, die in der körperlichen Welt stark zurückgedrängt wird: das zärtliche Miteinander. Die Publizistin Antje Schrupp beschreibt in ihrem Text “Mehr Körperkontakt! Über das Tabu, zärtlich zu sein” das Fehlen der körperlichen Ausdrucksmöglichkeit von liebevollen und wertschätzenden Beziehungen außerhalb von Paarbeziehungen. Doch nicht nur in Familien und Freundschaften wird diese Form der nonverbalen Kommunikation zu selten gewählt. Die zarte körperliche Ebene in Paarbeziehungen wird in der Öffentlichkeit vorrangig von jungen, heterosexuellen Paaren gelebt. Schon Paare mittleren Alters verzichten oftmals auf Berührungen, die über Händchenhalten hinausgehen; homosexuelle Paare sind selbst in Großstädten Anfeindungen ausgesetzt, wenn sie ihre Liebe zu erkennen geben.
Das Beschneiden von zwischenmenschlicher Kommunikation um die Komponente der sanften Körperlichkeit wirkt nicht nur bei Kindern und Jugendlichen auf das Erlernen von Sexualität und Partnerschaft, auch Erwachsene werden in ihrem Artikulations- vermögen von Emotionen eingeschränkt. Erlernte und natürliche Verhaltensweisen haben zudem eine Neuinterpretation erfahren, die Menschen zwingt, diese zu unterdrücken. Berührungen in platonischen Freundschaften unterstellen sexuelle Beziehungen und können zu Eifersucht führen. Eltern, insbesondere Väter, müssen den Körperkontakt mit ihren Kindern stets an Augen messen, die pädophile Neigungen im Umgang miteinander erkennen könnten.
Während der Umgang miteinander im Alltag also vielfach verhaltener und distanzierter wird, ist die digitale Kommunikation in ein schäumendes Gefühlsbad eingetaucht. Emoticons sind dabei vielleicht die scheusten, aber auch die altgedienten Vertreter ihrer Art: sie haben nahezu den Rang von Satzzeichen erlangt, und übersetzen nun die emotionale Intonation und Mimik in die Schriftsprache. Obgleich der Gebrauch von Emotiocons eine Geschmacksfrage bleibt, sie werden von allen Altersgruppen von Internetnutzern gebraucht und finden nicht nur Verwendung in freundschaftlicher Kommunikation. Auch in einem eher formalen Schriftverkehr unter Kollegen finden sie bisweilen Einsatz, da sie ähnlich der Gestik und Mimik auch unterbewusst getippt und abgeschickt werden.
In sozialen Netzwerken sind die Angaben über das Gefühlskonstrukt gegenüber einer anderen Person, das wir Beziehung nennen, ähnlich standardisiert wie Emoticons: der Beziehungsstatus. Hier können Nutzer ihrer Liebesbeziehung ein Label verleihen und sich mit der betreffenden Person in diesem Netzwerk verknüpfen. Obgleich der Informations- und Gefühlsgehalt von verliebt, verlobt, verheiratet oder “es ist kompliziert” zunächst gering erscheint, die Etablierung der Bekenntnis zu einer Beziehung im Netz hat den Weg dafür geebnet, dass das Internet zu einer wichtigen Plattform für den Austausch von Gefühlen geworden ist.
Die vorgegebenen Auszeichnungen für Beziehungsarten sind zugleich von den Nutzern ihres spröden Charms beraubt worden und können neue Bedeutung entfalten und Gefühlen Ausdruck verleihen: so geben Partner – vielleicht erst frisch verliebt oder noch lange nicht im Alter für den Traualtar – ihren Beziehungsstatus als “verheiratet” an. Trennungen kündigen sich über den Umschwung des Status auf “Single” an und suchen mit dieser neu verkündeten Freiheit die nächste Liebschaft. Aber auch platonischen Freunden steht es offen, ihrer Freundschaft über eine Verpartnerung im Netz eine Gewichtung zu verleihen. Die wachsende Anzahl von Eheschließungen auf den Seiten von Facebook würde Anhänger traditioneller Familienbilder erfreuen. Doch die große Mehrheit dieser Hochzeiten manifestiert lediglich eine enge Freundschaft in der Virtualität.
Doch das viel größere Denkmal, das dem Kosmos von Liebe, Sex und Zärtlichkeit im Netz errichtet wird, ist der Einzug der körperlichen Liebesbekundung in der öffentlichen Kommunikation zwischen befreundeten Menschen, die trotz ihrer engen Verbundenheit den tatsächlichen Körperkontakt meiden, um ihre Gefühle füreinander kund zu tun. “Liebe Grüße” in Mails und in Gästebüchern ist im Gebrauch unter Freunde die kalte Schulter der Grußformeln. Im Netz werden unablässig 1.000 dicke Küsse verschickt, hier wird fest umarmt, gekrault und geknuddelt, Kuschelbedürfnisse ausgesandt. Zärtlichkeit wird nicht verhüllt, Liebesbekundungen werden zu Dutzenden an die Pinnwände in sozialen Netzwerken genagelt. Ganz frei, ganz ungeniert und so gar nicht monogam. Dieses Phänomen ist nicht allein eine Jugendbewegung. Küsse für alle: vielleicht ist dieser Tabu-Bruch die schönste Seite der Sharing-Kultur im Netz.
Unmut und Agressionen finden ihren weg oft über Worte ins Netz. Es lohnt darüber nachzudenken, welche Schlüsse über die Absender getroffen werden können, die ihre Botschaften mit überbordenden Zärtlichkeiten füllen, die für den nüchternen Beobachter fast kitschig und übertrieben klingen – doch auch bereit zu geben und vor allem: hungrig.
Ein Kashmir-Pullover, das Tätscheln des Schoßhundes und die Luftküsse vor dem Café kompensieren nun einmal nicht, was ein soziales Wesen zum Wohlfühlen braucht. Auch das ins Netz getippte Gruppenkuscheln kann und wird das nicht ersetzen. Doch dass das körperliche Vokabular sich nicht ganz, sondern nur ins Netz verabschiedet hat, lässt gute Hoffnung, dass wir es von dort auch wieder hinaus auf die Straße locken können. Oder zunächst auf das Sofa des Videoabends unter Freunden und Familie.
Komplexe Gefühle in der Schriftsprache auf ein Emoticon, einen Beziehungsstatus oder eine digitale Umarmung zu reduzieren, mag dem Netz angemessen sein, für eine Liebe oder Freundschaft ist das zu einfach. Noch einfacher und zudem viel schöner ist es hingegen, die Umarmung nicht für die virtuelle Welt zu konvertieren, sondern ganz ungestüm und mit beiden Armen an die Frau oder den Mann zu bringen.
Fasst euch ein Herz. <3