worin die Autorin räthselt, ob wir allhier „Narren des Zufalls” seyen, über ein Druckwerk und dessen Autor contemplieret und am Ende nur wenig gelernet hat.
Am Wochenende war ich mit meiner Familie bei einer Hochzeit. Das Abendessen war insgesamt hervorragend, leider fand meine Schwester gegen Endes des Hauptganges ein Lakritzdings in ihrer Sauce. Noch während sie darüber sinnierte, was das kleine zäh-harte Dings in ihrem Mund mit dem schneidenden Geschmack – weit weg von Schweinefilet und rosa Pfeffer – sein könnte, war es auf dem Weg die Speiseröhre hinunter und als ihr die Erkenntnis dämmerte, war es bereits zu spät. Die nachfolgenden Desserts waren nach einhelliger Meinung der Höhepunkt des Abendessens, aber meine Schwester war durch nichts mehr zum Essen zu bewegen – das Vertrauen in die Küche war zu nachhaltig beschädigt. Angesichts der Tatsache, daß den Köchen der gehobenen Gastronomie vermutlich eher selten Lakritzbonbons ins Essen fallen, angesichts einer begrenzten Zahl von Gästen, Tellern und Gerichten und des bereits geschehenen Unglücks versuchte ich ihr zu erklären, daß die Wahrscheinlichkeit, keine weitere Ekeligkeit auf dem Teller zu finden, nie wieder geringer sein würde als jetzt. Vergebens, ihre Intuition war dagegen. Und hatte, streng genommen, damit sogar recht. Das Auffinden von Lakritz in rosa Pfeffersauce steht in keinerlei Zusammenhang mit dem Auffinden von, sagen wir, Kaugummis in Mousse au Chocolat, – folglich hätte es ihr sehr wohl passieren können, noch einmal den schwarzen Peter zu ziehen. Ersteres ist Statistik. zweiteres Zufall, oder randomness.
Über diesen Problemkomplex (Zufälle und Wahrscheinlichkeiten) wurden ganze Bücher geschrieben – völlig zurecht, weil es sich um eine komplizierte Angelegenheit handelt und der Mensch ganz offenbar für das Denken in Wahrscheinlichkeiten nicht gemacht ist. Werden Probanden gebeten, zufällige Zahlenfolgen zu entwickeln, sind diese niemals zufällig und enthalten namentlich zu selten Wiederholungen derselben Zahl. Eine wahrhaft zufällig Zahlenfolge sind hingegen die Nachkommastellen der Zahl Pi – auch wenn man gerade da gerne irgendeine Gesetzmäßigkeit vermuten würde.
Eines der aktuellsten und vermutlich bekanntesten Bücher stammt von Nassim Nicholas Taleb: „Fooled by randomness”. Im Gegensatz zum genannten Autor bin ich kein „voracious reader” (wie er mehrfach anmerkt), jedenfalls nicht von Sachbüchern, was daran liegen mag, daß ich bei der Mehrzahl der populärwissenschaftlichen Lektüren der vergangenen zwei Jahre die Autoren irgendwann unerträglich selbstherrlich fand. Aber dazu später.
Taleb wurde im Rahmen der Finanzkrise bekannt, weil seine Investment-Strategien von Verlusten deutlich weniger betroffen war, und irgendwie erhofft man sich von dem Buch Aufschlüsse über die Hintergründe der umjubelten Strategie – leider vergebens. Man kann aber einiges lernen über den Menschen und wie er ein Spielball der Zufälle ist, ganz ohne es zu merken. Es ist eine Grundwahrheit, daß die meisten Menschen die Ereignisse, die sie erleben, interpretieren. Wir stellen Zusammenhänge her, entdecken oder konstruieren Muster oder systematische Verhalten, weil wir allzuoft den Zufall nicht als solchen erkennen oder sein Wirken verkennen. Kartenspieler fangen plötzlich an, nach einem besonders erfolgreichen Tag eine neue Krawatte als Glücksbringer zu betrachten (was ganz offensichtlich kindisch ist), Vermögen werden mit technischen Kursanalysen aus dem Computer gemacht (die niemand mehr intuitiv nachvollziehen kann), und ganz sicher möchte niemand seinen beruflichen Erfolg auf einen ordinären, unverdienten Zufall zurückführen.
Leider ist der Autor bei seinen klugen Betrachtungen eher geizig mit mathematischen Beweisen oder auch nur Hinweisen auf die Herkunft seiner Theorien, aber auch ohne das kann ich ihm bei seinem Grundkonzept folgen: für jede Realität, die wir erleben, gibt es „alternative histories” – also andere Verläufe, die ex ante ebenso möglich gewesen wären, aber zufällig eben doch nicht wahr wurden. Warum ausgerechnet an jenem Tag Kinder auf den Gleisen spielen, an denen ich die letztmögliche Bahnverbindung abends riskiert habe, weiß ich nicht – aber ich glaube nicht an Murphy’s Law. Das ist einfach dummer Zufall und mir ist oft bewußt, daß auch alles ganz anders hätte kommen können.
Zufälle gibt es nach Ansicht des Autors sehr viel mehr, als man gerne annehmen möchte. Soviele, daß sie sich über einen begrenzten Zeitraum durchaus wie systematische Reihen darstellen und man meinen könnte, es sei kein Zufall, sondern System. Zum Narren machen sich jedoch all jene, die ihr Handeln an eingebildeten Systemen ausrichten, statt Zufälle und Wahrscheinlichkeiten vernünftig zu berücksichtigen. Computer, Modelle, statistische Auswertungen eignen sich alle hervorragend, solche Muster zu entdecken, auch wenn eigentlich der Wunsch Vater des Gedankens war und die entdeckten Muster nur zufällig entstanden sind. All die Händler zum Beispiel, die über 10 oder 20 Jahre gute Gewinne erzielen, konstant über Durchschnitt, und das ihrer ganz besonderen Strategie aus dem schwarzen Kasten zuschreiben, weil Menschen nun einmal dauernd versuchen, den Ereignissen der Vergangenheit ein Muster zu entlocken. Daarüber vergessen sie völlig, daß Märkte nicht berechenbar sind und irgendwann – selten, aber doch gelegentlich – ein Crash kommt, der in seinen Charakteristika nicht vorherzusehen war und jede systematische Strategie zerschießt. Unabhängig davon wird es – um beim Beispiel zu bleiben – aufgrund der schieren Anzahl von Akteuren an Kapitalmärkten immer einige geben, die selbst in der Krise noch gut dastehen und dies ihrer herausragenden Strategie zuschreiben. In Wahrheit jedoch, wenn ich den Autor richtig verstehe, ist alles nur Zufall und die beste Strategie ist, gerade die seltenen Ereignisse sorgfältig zu berücksichtigen und insgesamt soweit möglich mit dem Zufall zu kalkulieren. Wenn es um Kapitalmärkte und Trading geht.
Für den Alltag tue ich mich noch schwerer, irgendwelche Lehren aus 196 Seiten Lektüre zu ziehen. Es gibt mehr Zufälle im Leben, als wir meinen? Sicher doch – das relativiert dann also Erfolge und Mißerfolge. Die Beförderung hatte möglicherweise nur begrenzt mit meinen Leistungen und meinem Verhalten zu tun? Wohl kaum. Fast alle wesentlichen Dinge im Leben sind multikausal und untrennbar mit dem eigenen Verhalten verbunden. Ohne Einsatz keine Beförderung, ohne vorausschauendes Fragen am Bahn-Schalter keine alternative Verbindung bei Verspätungen. In welchen Fällen der Zufall mich jedoch aus meiner Eigenverantwortung entläßt, und wo ich mich doch an die eigene Nase fassen soll oder darf, wird nicht so recht deutlich. Auch wenn man fast das Gefühl bekommt, daß alle Investmentbanker außer ihm immer nur Glück hatten und sowieso dumm sind.
So weit, so nachvollziehbar. Warum es jedoch für diese Botschaften erforderlich ist, die Nase so hochzutragen, daß es beinahe hineinregnet, ist mir nicht begreiflich. Sätze wie „both of us surround ourselves with scholars and scientists, not businessmen (talking to successful scientists is a good discipline to aovid pedestrianism in our own thinking)” hinterlassen bei mir einen bitteren Geschmack im Lektüregedächtnis. Überhaupt bin ich immer wieder über allerlei persönliche Einlassungen gestolpert, die in ihrer einheitlichen Selbstdarstellung irgendwann ermüdend waren – auch wenn Wikipedia mir das als Stilmittel verkaufen möchte. Die endlosen ironischen Seitenhiebe auf MBAs und andere „non-trained” oder „non-scientist” Personen verloren nach 100 Seiten ebenfalls ihre Originalität. Vielleicht liegt es in der Natur des populärwissenschaftlichen Sachbuchs, daß das Wort „ich” allzu oft vorkommt (und hier sitze ich möglicherweise im Glashaus und werfe Steine), aber mir verleidet das die Lektüre. Davon abgesehen ist die Vielfalt der Themen, Beispiele, Argumentation so kapriziös und zappelig, daß ich mich an das Verhalten hyperaktiver Kinder erinnert fühle – alles anfange, aber nichts zu Ende bringen.
Ich habe mehr über Zufälle und Wahrscheinlichkeiten nachgedacht, als je zuvor, ich habe gedankliche Konzepte gelesen, die mir bedenkenswert scheinen, ich habe anfangs einige Male lächeln müssen, und war durchaus unterhalten von der ein oder anderen Banker-Anekdote – aber den ganz großen Hype, der um das Buch vor einigen Jahren gemacht wurde, kann ich nicht nachvollziehen. Dafür bleiben die Thesen zu vage, die einzelnen Bestandteile zu fragmentiert und die Beweisführung zu wenig stringent. Immerhin: wenn ich das nächste Mal beruflich scheitere, schiebe ich einfach alles auf dummen Zufall und berufe mich auf Taleb.