worin die Autorin wieder einmal über Statistiken contemplieret, insbesondere solche der fürtrefflichen Experten zu schwarzen Märkten und kriminellen Taten.
Der gemeine Statistiker träumt privat möglicherweise von einem unerschöpflichen Weinkeller, einem Dukatenesel oder der großen Liebe, in beruflicher Hinsicht jedoch von einem umfassenden Datensatz – der allerdings in der Realität kaum zu bekommen ist. Bei den meisten Studien hat man nicht die Gelegenheit, die Grundgesamtheit, also 100 % aller möglichen Studienobjekte berücksichtigen zu können. Also wird eine Auswahl getroffen, die Stichprobe. Die wissenschaftliche Forschung kennt allerlei Methoden, wie vernünftige Stichproben zu erheben sind: Repräsentativ sollen sie sein, trotzdem nicht durch Selektion beeinträchtigt, und grundsätzlich so groß wie möglich – seit wir Computer haben, ist Größe kein Nachteil mehr, schließlich übernimmt der Rechner die leidige Hauptarbeit.
Bei vielen Themen wäre es theoretisch durchaus möglich, alle relevanten Personen zu befragen – nur praktische Gründe stehen dem entgegen. Man könnte ohne weiteres alle Studenten zu ihren Fernsehgewohnheiten befragen, würde man die Mühe nicht scheuen, und vermutlich würden die Studenten auch leidlich ehrlich antworten. Befragte man sie jedoch zu ihrem Schummelverhalten, Plagiaten oder Ladendiebstählen – das Bild wäre ein anderes. Kompliziert wird es bei jenen Themen, deren Aktivität sich naturgemäß im Verborgenen abspielt. Wenn Sie irgendwo das Wort „Dunkelziffer” lesen, ist das ein sicheres Zeichen, alle Aussagen im Zusammenhang mit diesem Thema mit Vorsicht zu genießen.
Straftaten wie überhaupt unrechtmäßiges Verhalten gehören zu jenen Bereichen, die ihrer Natur nach kaum zu erfassen sind. Straftaten werden nicht gemeldet, Schwarzarbeit erscheint in keiner Statistik und GEZ-Betrüger sind auch in keiner Datenbank erfasst. Fassbar ist allenfalls jene kleine Minderheit, die irgendwann mit der Polizei oder den Behörden Bekanntschaft macht und auf Basis dieser kleinen Minderheit und allerlei anderen Puzzleteilchen muß man die tatsächlichen Zahlen hochrechnen – schätzen, eben.
Ein besonders schönes Beispiel sind allerlei Bereiche, die mit der Vorsilbe „schwarz” verbunden sind. Schwarzmarkt, Schwarzarbeit, Schwarz-Fernseher. Schwarzarbeit ist ein großartiges Thema: angeblich hat jede zehnte Person irgendwann schwarz gearbeitet, oder hat Schwarzarbeit entlohnt – die praktische Erfahrung ist also breit gestreut. Entsprechend hat jeder eine Meinung, aber die Zahlen variieren allein für Deutschland erheblich: zwischen 0,5 % und 20 %. Das allerdings ist im Vergleich mit Entwicklungsländern lachhaft wenig: In Mali, Kolumbien oder Thailand nämlich ist es keineswegs üblich, ein selbständiges Gewerbe ordnungsgemäß registrieren zu lassen, sei es nun der Straßenverkauf von Telefonkarten oder der Friseur an der Ecke. Folglich zahlen sie natürlich auch keine Steuern, und was den deutschen Staat schon stört, ist für Entwicklungsländer nachgerade eine Katastrophe. Dort macht nämlich der Schwarzmarkt bis zu 70% der Wirtschaftsleistung aus. Auch die wissenschaftliche Forschung interessiert aus allerlei Gründen für die Größe und Bedeutung solcher Märkte und so wurden verschiedene Schätzmethoden entwickelt.
Geht man davon aus, daß wirtschaftliche Aktivität fast immer mit Geld zu tun hat und ziemlich oft mit Elektrizität, sind Geldumlauf und Strom brauchbare Indikatoren für die Wirtschaftsleistung. Hat man erst einmal herausgefunden, wieviel Geld und Strom auf den offiziellen, messbaren Teil der Wirtschaft entfallen und wie hoch der tatsächlich Umlauf oder Verbrauch einer Volkswirtschaft ist, kann man damit immerhin schon eine Peilung über den Daumen vornehmen.
Die möglicherweise kurioseste Methode funktioniert jedoch (zumindest anfangs) ganz ohne Computer und technisches Spielzeug. Wüßte man für verschiedenee Regionen in abgesteckten Gebieten genau, wieviele Unternehmen offiziell und wieviele inoffiziell sind, so könnte man diese punktuellen Daten theoretisch auf das ganze Land hochrechnen. Internet und GPS machen diese Strategie unendlich viel leichter als früher: mit Internet-Straßenkarten werden Gebiete abgesteckt, Startpunkte zufällig festgelegt und dann Personen zur Befragung in festgelegten Schemata straßauf, straßab zur Befragung der Unternehmer und Händler rechts und links der Straße ausgeschickt. Ich stelle mir das sehr komisch vor: Irgendwo in Schwarzafrika, zwischen vielen bunt gekleideten, dunkelhäutigen Menschen stehen einige hellhäutige Menschen in Shorts – oder besser noch: Anzügen – im Straßendreck zwischen Schutt, Schlaglöchern und Abfall und stellen sonderbare Fragen – zum Wohle des Staates, der Steuereinnahmen und der Wissenschaft. Immerhin hat man am Ende für einige Regionen äußerst präzise und verläßliche Angaben, die eine Hochrechnung ermöglichen.
Was in Entwicklungsländern funktioniert, geht in Europa angesichts der sehr viel besseren Datenlage natürlich etwas einfacher, dennoch weichen die Schätzungen verschiedener Forscher erheblich voneinander ab und liegen irgendwo zwischen 4 % und 16 % des BIP. An der Obergrenze läge Deutschland damit etwa gleichauf mit Vietnam, es wäre aber weniger als in Griechenland. Auf die Zahlen am oberen Rand kommt man übrigens mittels der Bargeldumlaufmethode – man kann sicher allerdings fragen, ob das wirklich so aussagekräftig ist. Würden geschätzte 350 Milliarden Euro in Schwarzarbeit erwirtschaftet, und man legt durchschnittliche Jahresgehälter von 26.000 Euro zugrunde (was im Schwarzmarkt eher zu hoch sein dürfte), müssten 14 Millionen von 35 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland sich in Vollzeit der Schwarzarbeit widmen – was doch sehr hoch erscheint. Soviel zur Aussagekraft von indirekten Schätzmethoden. Befragungen der Bevölkerung landen eher im einstelligen Prozentbereich des Bruttosozialprodukts.
Ähnliche Probleme stellen sich bei der Wirtschaftskriminalität. Geldwäsche zum Beispiel. Viel wird darum gestritten, ob die vielen teuren Maßnahmen zur Geldwäscheprävention sich lohnen. Schulungen für Bankmitarbeiter, speziell ausgebildete Polizisten und Anwälte, umfangreiche Systeme in Banken mit noch umfangreicheren Bergen von Papierkram im Gefolge – das alles, um eine unbekannten Zahl von Geldwäschern, die unbekannte Geldbeträge auf weitgehend unbekannten Kanälen wieder anständig aussehen lassen. Im Versuch, das Unsichtbare zu quantifizieren, schätzen Wissenschaftler das Ausmaß der Kriminalität, schätzen die damit verbundenen Finanzströme, die Kosten der vielen Maßnahmen und setzen das ins Verhältnis zu den Fahndungserfolgen. Kann man mit diesem Berg von Schätzungen vernünftige Entscheidungen treffen? Vermutlich nicht. Das nimmt solchen Studien keineswegs die Berechtigung, denn auch ungefähre Schätzungen stellen einen Erkenntnisgewinn dar, den man in politische Betrachtungen miteinbeziehen sollte. Allerdings kann der Computer nichts ausrechnen und auch keine verläßlichen Statistiken liefern, wenn man ihn nicht erst mit Daten gefüttert hat. Und so gibt es Bereiche, wo die Gesellschaft Grundsatzentscheidungen treffen muß. Unabhängig vom potentiellen Nutzen bei unbekannter Zahl von Straftaten und nicht-meßbaren Erfolgsaussichten: wollen wir uns teure Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung leisten, oder nicht? Sollte die Schwarzarbeit weiter mit allen Mitteln eingeschränkt werden – egal wie groß der Umfang ist? Oder sollte man froh sein, daß Menschen überhaupt arbeiten, mit dem schwarzen Geld einkaufen gehen, und die Binnenachfrage stützen? Solche Fragen kann man – begrenzt – mit wunderbaren, mehr oder minder realitätsnahen theoretischen Modellen beantworten. Vorausgesetzt, man glaubt an deren Aussagekraft.