Gleichwohl der Wirtschaftsnobelpreys kein Nobelpreys ist und die Wirtschaftswissenschaft womöglich keine Wissenschaft, ehret er doch große Leistungen, wie die Autorin erkläret.
Eigentlich ist der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ja gar keiner – vielleicht war Alfred Nobel der Meinung, Wirtschaft sei keine Wissenschaft, jedenfalls keine richtige Wissenschaft wie die Naturwissenschaften. Die Wirtschaftswissenschaftler selber sehen das natürlich anders, und um ihren Anspruch gründlich zu zementieren, ist der beste Freund des Volkswirts heute die hehre Wissenschaft der Mathematik.
Der Nobelpreis wird zumeist für Theorien vergeben, die „gut abgehangen” sind (“Hat Tip” für einen unbekannten Autor, die Formulierung ist geborgt), also gut und gerne zwanzig Jahre alt sind. Paul Krugman bekam ihn nicht für seine makroökonomischen Aufsätze oder die Kolumne bei der New York Times, sondern für den Beitrag zur Handelstheorie. In den 80er Jahren entwickelte er Modelle, die mittels der Einführung von Skaleneffekte und geographischer Faktoren völlig neue Einsichten in die Begründung von Handelsströmen ermöglichten.
Auch die diesjährigen Preisträger Christopher Pissarides, Dale Mortensen und Peter Diamond wurden nicht für ihre aktuellen Beiträge zur Arbeitsmarktforschung geehrt, sondern für Aufsätze, die in den 80er Jahren veröffentlicht wurden und gleichfalls eine grundlegende Neuerung der Modelltheorie mit sich brachten.
In den kurzen Zeitungsbeiträgen der letzten Woche konnte man lesen, daß die Modelle entscheidend dazu beigetragen haben, Ungleichgewichte auf Arbeitsmärkten zu erklären, insbesondere die gleichzeitige Existenz von Arbeitslosigkeit und freien Stellen. Das klingt so simpel, ist jedoch ziemlich kompliziert. Überspitzt formuliert könnte man sagen: die Neuerung der Diamond-Mortensen-Pissarides-Modelle besteht darin, daß bei der Stellensuche bzw. Stellenbesetzung Reibungskosten entstehen, und nicht jeder arbeitsuchende Arbeiter auf jede freie Stelle passt. Denkt man darüber einen Moment nach, muß man sich fragen, ob der Nobelpreis für offensichtliche Platitüden vergeben wird – so gesehen könnte sogar ich Chancen auf eine der weltgrößten Ehrungen haben, denn Platitüden kann ich auch von mir geben. Von Politikern gar nicht zu schweigen, die müßten dann alle Nobelpreisträger sein.
So einfach ist es jedoch nicht – die Leistung besteht darin, diese beiden Grundeinsichten in mathematische Modelle eingebunden zu haben. Das Arbeitspferd der Volkswirtschaft ist der Markt, auf dem Angebot und Nachfrage über Preise ins Gleichgewicht gebracht werden. Für verschiedene Güter oder Produktionsfaktoren (und dazu gehört auch Arbeit) gibt es verschiedene Marktmechanismen, ein monopolistischer Markt mit nur einem Anbieter führt zu anderen Verhältnissen als vollständige Konkurrenz, auch die Nachfrager mit ihren Präferenzen gilt es zu berücksichtigen. Jeder weitere Umstand, der berücksichtigt wird, macht das Modell komplizierter und rechnerisch schwieriger zu handhaben – mittlerweile in manchen Modellen so sehr, daß es nicht mehr analytisch zu lösen ist, sondern nur noch mit Beispielzahlen, Simulationen und dem Computer als Exekutionsgehilfen. Im Modell nämlich wird jeder Faktor und jede Bedingung durch Variablen ausgedrückt, so daß am Ende ein System von Gleichungen die wesentlichen Zusammenhänge zwischen Faktoren festlegt.
Die erste Formel in einem Diamond-Aufsatz (in dem der Autor illustriert, daß der Vorteil aus Vertragsabschlüssen von Firmen und Arbeitssuchenden nicht unbedingt die jeweiligen Suchkosten ausgleicht und daher zu Ungleichgewichten führt) lautet:
“K – V = F = E = L – U”
wobei K die Gesamtzahl der Jobs in einer Volkswirtschaft ist, V die freien und E die besetzten Stellen, dies erklärt die erste Hälfte: V + E müssen K entsprechen. Weiterhin gibt es L Arbeiter, von den U arbeitslos sind und E einen Job haben. Die erste Formel definiert also nur den unglaublich trivialen Zusammenhang, daß Arbeitslose und Arbeitssuchende zusammen die Gesamtheit der Arbeitsfähigen darstellen und die Anzahl der besetzten Stellen der Anzahl der arbeitenden Menschen entspricht.
Es folgt die Ableitung der Arbeitslosenrate und sukzessive die Formulierung von Einkommen/Löhnen und Produktion, wobei das halbe Alphabet für die Variablen herhalten muß. Die Formeln werden nach Bedarf abgeleitet oder integriert, und eines der zentralen Ergebnisse ergibt sich am Ende aus dem Vergleich zweier Formeln und sieht so aus:
“∂W/∂L ≤≥ W(U) as auU ≤≥avV”
Das zu interpretieren setzt Kenntnis und Verständnis sämtlicher Formeln dazwischen voraus, die Interpretation läuft jedoch – unter anderem – darauf hinaus, daß Arbeiter, die sich vom Stellenanbieter finden lassen, höhere Löhne erhalten also solche, die selbst aktiv suchen. Anders gesagt: vergleicht ein Arbeitssuchender die Vorteile der zukünftigen Gehälter mit den Kosten der Suche, kann die Bilanz für den Arbeiter negativ sein – lieber nicht-arbeiten und Freizeit haben, statt für einen potentiell zu geringen Lohn Arbeit zu suchen. Damit bestätigt Diamond die Hypothese, daß Reibungskosten bei der Suche zu Ungleichgewichten führen, die ein Staat theoretisch mit Maßnahmen ausgleichen kann, zum Beispiel indem er die Suche einfacher macht oder weitere Anreize bietet.
Das Modell sagt hingegen nichts darüber aus, wie die Suchkosten zustande kommen, wie hoch der Lohn sein müßte, und wie das spezifische Umfeld aussieht – es stellt nur fest, daß Bedingungen denkbar sind, unter denen sich die aufwendige Arbeitsuche nicht lohnt. Deshlab ist auch die Anwendung im Alltag eine völlig andere Sache. Dem Sachbearbeiter der Agentur für Arbeit in Klein-Kleckersdorf nutzt das Modell gar nichts. Modelle funktionieren nur auf Basis massiv vereinfachender Annahmen. Bei Diamond unter anderem, daß alle Arbeitssuchenden mit gleicher Wahrscheinlichkeit fündig werden, Firmen und Individuen kein Risiko scheuen, der Wert von Freizeit als monetäre Größe quantifizierbar ist, freiwillige Kündigungen ausgeschlossen sind und Arbeiter für immer leben (wobei die letzte Annahme aufgegeben werden könnte – selbe Ergebnisse, nur komplizierter zu rechnen). Offensichtlich sind die Annahmen ganz weit weg von der Realität und Komplexität moderner Arbeitsmärkte – der Erkenntnisgewinn des Modells ist zuallererst theoretischer Art. Nur im günstigen Falle lassen sich für alle stilisierten Variablen in den nationalen Statistiken passende Zahlen finden, mit denen man das Modell an der Realität prüfen kann (und auch das nur dank der gigantischen Rechnerkapazität der Moderne). In jedem Fall jedoch hilft ein Modell, das Denken zu klären, bestimmte Wirkungsmechanismen in vereinfachter Art herauszustellen und den gefühlt logischen Zusammenhang auf eine nachvollziehbare Grundlage zu stellen. Mit dieser Grundlage wiederum kann man an den Variablen und Annahmen weiter drehen, Mathematiker mit Zahlen und Algebra spielen, und auch über Lösungen nachdenken: in diesem Fall über mögliche staatliche Eingriffe, die ein besseres Gleichgewicht herbeiführen können.
Deshalb sind die von Diamond, Mortensen und Pissarides eingeführten Annahmen bahnbrechend: Der Arbeitsmarkt funktioniert eben nicht wie normale Märkte, sondern ist erstens mit Reibungen und Suchkosten verbunden und zweitens so differenziert, daß im Gleichgewicht zwei sehr spezifische Partner zueinander finden – genannt Matching. Das Standardmarktmodell von Angebot und Nachfrage, wo sich unmittelbar Gleichgewichte zwische vielen, relativ identischen Akteuren finden, hätte niemals getaugt, moderne Arbeitsmärkte abzubilden, wo die Suche nach dem richtigen Partner Zeit braucht. Die Leistung der Nobelpreisträger aber besteht nicht darin, diese offensichtlichen Tatsachen formuliert zu haben, sondern sie in mathematische Form zu gießen, aussagekräftige Ergebnisse abzuleiten, und damit ein völlig neues Marktmodell – den Suchmarkt – geschaffen zu haben. Solche Errungenschaften setzen nicht nur erhebliche mathematische Kenntnisse voraus, sondern vor allem die geistige Flexibilität und den Wagemut, sich weitab der ausgetretenen Wissenschaftspfade zu bewegen und völlig neue Möglichkeiten für weitere Forschung zu eröffnen. Das jedoch ist nicht nur einen Preis wert, sondern Wissenschaft, wie sie sein sollte.