Ich muss vorwegschicken, dass ich einer der ganz wenigen Deutschen bin, die sich in Städteplanung nicht auskennen. Jedes Kind kann heute auswendig aufsagen, wie viele Schulbücher man kaufen könnte für einen Streckenkilometer Bahn, wie viele Dezibel über dem vom internationalen Verband der Oto-Rhino-Laryngologen aufgestellten Richtwert die Bauarbeiten im Rahmen einer Untertunnelung liegen und wie viel schöner es nach Maßgabe der Neuroästhetik ist, einfach alles so zu lassen wie es war. Ich vermag all das nicht, daher beschränke ich mich auf einen Teilaspekt des titanischen Ringens um den Stuttgarter Bahnhof: Erleben wir Dank Twitter eine Revolution?
Der Sachbuchautor Malcolm Gladwell hat sich in einem vielbeachteten Artikel, der Anfang des Monats im New Yorker erschien, festgelegt: „Die Revolution wird nicht getwittert werden“. Wandel sei über die „schwachen Bindungen“ nicht zu erreichen. Social Media ist unbestritten gerade dadurch gekennzeichnet, dass die Akteure sich nicht unbedingt persönlich, also im so genannten Real Life, kennen. Gladwell zieht als Beispiel für seine These unter anderem die Bürgerrechtsbewegung in der DDR heran. Im Kern sei der Fall der Mauer ein „strong-tie phenomena“, also ein Phänomen der starken Bindung. Je mehr Freunde jemand gehabt habe, die dem Regime kritisch gegenüber gestanden hatten, desto wahrscheinlicher sei es gewesen, dass derjenige auch an den wöchentlichen Kundgebungen vor der Nikolaikirche teilnahm. Zudem seien hierarchische Systeme losen Netzwerken überlegen.
Biz Stone, Mitbegründer von Twitter (der Twitter, das gemeinhin als soziales Netzwerk gilt, hier ausdrücklich als „global information network“ bezeichnet), widerspricht Gladwell in The Atlantic deutlich. Er unterstreicht die Rolle, die Twitter in China, dem Iran, Kenia und Moldawien gespielt habe und hebt in seinem Schlussbild die Wirksamkeit selbstorganisierender Systeme als Agenten des Wandels hervor: Ein Vogelschwarm sei auch ohne zentrale Führung zu einer choreographiert wirkenden Bewegung imstande und damit die Verkörperung des Wandels schlechthin. Nun ist nicht nur die Vogelschwarmmetaphorik wenig stimmig (schließlich sind die Vögel genetisch prädestiniert, sich an ihrem Nebenflugobjekt zu orientieren, was man von moldawischen Oppositionellen wohl kaum behaupten kann), es gibt auch einen offensichtlichen Unterschied zwischen der twittergestützten Demokratiebewegung in China und der twitterlosen Demokratiebewegung in der DDR: letztere hatte Erfolg.
Nichtsdestotrotz habe ich zum ersten Mal von S21 tatsächlich bei Twitter gehört. Auf einmal tauchte in meiner Timeline dieses Kürzel wieder und wieder auf, ich googelte es und wunderte mich, dass sich Twitterer auf einmal brennend für das Sicherheitsgefängnis 21 der Roten Khmer interessierten. Bald darauf wurde ich belehrt. Es ist eine erstaunliche Wende der Geschichte, dass ausgerechnet in Deutschland die Revolution sich an einem Bahnhof entzündet. „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“, hatte Lenin noch gespottet und tatsächlich sind in Deutschland seit Jahrzehnten Proteste nicht von WM-Feiern zu unterscheiden. Sie erinnern sich vielleicht, wahrscheinlich aber nicht: Überall galt der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2009 als der langweiligste aller Zeiten. Eine gewaltige Demonstration aber gab es. Auf ein Plakat der CDU mit der Aufschrift Angela Merkel kommt hatte jemand “Und alle so `Yeah´” geschrieben. Ein Foto des Plakates mit dem Spruch wurde in einigen Blogs gepostet und schließlich bildete sich beim Auftritt Merkels in Hamburg ein Flashmob von Leuten, die nach jedem Satz „Yeah“ riefen. Die Kreativität des Protests wurde allerorten gelobt. Auch als die Studenten gegen die Einführung der Studiengebühren demonstrierten, fanden alle die Proteste optisch sehr ansprechend. Die Possierlichkeit des Protests ist heute sehr wichtig, denn mit originellen Kostümen schafft man es manchmal sogar in die Abendnachrichten. Und in der Regel bekommt man sogar Applaus von dem, gegen den man protestiert hat. Politikverdrossenheit bedeutet ja nicht in erster Linie, dass man Politikergesichter nicht mehr sehen kann, Politikverdrossenheit bedeutet, dass man nicht mehr daran glaubt, etwas in der Gemeinschaft ändern zu können. Also macht man einen farbenfrohen Protest, wenn in Deutschland Studiengänge, die das Land im vergangenen Jahrhundert einmal zur Wissensweltmacht haben werden lassen, zu verschulten Bachelorstudien zusammengestrichen werden und dann strickt man weiter an seinem Lebenslauf und glaubt verzweifelt daran, so seine Klassenzugehörigkeit bewahren zu können.
Nun aber ist der Spaß vorbei.
Mir ist vor ein paar Wochen während eines Einspielfilmchens einer Talkrunde schon aufgefallen, wie ernsthaft die schwäbischen Bürger ihr Ziel verfolgen. Wenig Bodypainting und Material für Klickstrecken viel Volkszorn. Endgültig Medienthema Nummer 1 war Stuttgart 21 dann durch die Eskalation der Gewalt. Noch bessere Bilder als von halbnackten Studenten kann man von verprügelten Rentnern machen. Meinen Freund, den Social-Media-Versteher Mathias Richel, habe ich per Mail um eine Einschätzung zu der Frage, wie sich Twitter auf S21 auswirkt, gebeten. Er hat mit diesem Dreiklang geantwortet:
1. Twitter ist das Crystal Meth für die mediokre Dagegenrepublik.
2. In 140 Zeichen ist kein Platz für alle Fakten und noch weniger für Widerspruch.
3. Aber: S21 wäre ohne Twitter so nicht möglich. Allerdings ohne die Wasserwerfer auch nicht.
Auch der Medienpädagoge Thomas Pfeiffer kommt in dem Artikel “Stuttgart 21 im Spiegel von Twitter zu dem Schluss”, Twitter habe „sicherlich keine zentrale Rolle“ gespielt. „Der Online-Wiederhall zu Stuttgart 21 hat einen klaren Beginn und einen deutlichen Namen: Der Blutige Donnerstag am 30. September.“
Twitter mag ein wirksames Werkzeug sein, wenn die sonstigen Medien Teil des Unterdrückungsapparats sind, in einer Demokratie kann es einer Bürgerbewegung helfen, ihre Sicht der Dinge publik zu machen. Aber es scheint ansonsten zu sein wie es immer war: Wer etwas verändern will, der muss etwas riskieren. In einer Demokratie Gottseidank weniger als in China.