Über eine Website sollen Verbraucher sich ab dem nächsten Jahr über Etikettenschwindel bei Lebensmitteln austauschen können.
Doch verhilft ein Internetpranger für Junk Food uns zu einem gesünderen und lustvolleren Essverhalten?
Julian geht in die 2. Klasse und ist Dealer. Er verkauft seinen Mitschülern auf dem Pausenhof bunt verpackte Zwischenmahlzeiten aus vielen “guten Zutaten”: Butterreinfett, Raffinadezucker und Trockenei von resignierten Legehennen aus dunklen Verschlägen in Niedersachsen. Julian mag wider der Natur eines Grundschülers Süßigkeiten nicht so sehr, dafür aber die Taschengeldaufbesserung, die er durch den Tausch seines Frühstücks gegen eine Euromünze erzielen kann. Das clevere Kerlchen macht ein Geschäft mit den unterzuckerten Gaumen seiner Klassenkameraden; glutenfreies Dinkelbrot mit Körnerfrischkäse und fröhlich grüner Kresse stimmen seinen Banknachbarn Friedrich nach einer Doppelstunde Mathematik in englischer Sprache nicht glücklich. Die verbotene Zuckerbombe hingegen versüßt den Schultag für die fünfzehn Minuten, bevor eine schrille Glocke zum Töpfern läutet.
Nachdem Julians Mutter von der Nebentätigkeit ihres Sohnes erfuhr und die Süßstoff-Quelle für ihn und seine Klassenkameraden versiegte, können Friedrich und er durch den Tausch ihres Pausenbrotes zumindest zwischen Kresse, Radieschen und Sprossen variieren. Nach diesem harten Winter gibt es im Sommer dann wieder organisches Ingwereis.
Lena-Marie hat sich am Abend schon mal einen glücklichen Bio-Apfel aus der elterlichen Obstschale gemopst. Das Abendessen ist an diesem Mittwoch noch lange nicht fertig. Die Eltern des Mädchens hat die ARD-Themenwoche zum Thema Ernährung stark verunsichert. “Kann man überhaupt noch etwas essen, das nicht im Fernsehkochstudio von Tim Mälzer oder Markus Lanz in der Pfanne geschwenkt wurde?”, fragen sie sich. Um das herauszufinden, verbringen die besorgten Versorger nun täglich einige Stunden mit Recherche zum Produktsortiment ihres Supermarktes im Internet. Ab März 2011 unterstützen die Verbraucherzentralen die Speisenden bei dieser Informationssuche: die Verbracherzentrale Hessen soll eine Website betreiben, auf der sich Konsumenten über den Etikettenschwindel bei Nahrungsmittel informieren können. Der Analogkäse wird in der digitalen Welt bekämpft!
Auf dem “Internet-Portal zur Klarheit und Wahrheit bei Lebensmitteln”, das Ilse Aigner, die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, gemeinsam mit den Verbraucherzentzralen initiiert hat, sollen Verbraucher künftig Produkte benennen können, die ihrer Meinung nach nicht das enthalten, was Aufmachung oder Angaben versprechen: Schinken-Imitat aus Stärke-Gel, Himbeerjoghurt ohne eine einzige echte Frucht, gepresstes Fischeiweiß in Garnelenform. Allerdings handelt es sich bei diesen Leckereien um “legale Mogelpackungen”, wie Verbraucherschützer sie nennen. Die Täuschung, die die Ministerin nun im Netz anprangern möchte, ist bislang gesetzlich nicht verboten. Bevor nun staatliche Maßnahmen ergriffen werden, die strengere sprachliche Regelungen für die Benennung von Speisen vorsehen, dürfen die Bürger im Netz über die Produkte chatten, die sie für irreführend halten. Ziel der Sammlung von “Meinungen zu Aufmachungs- und Kennzeichnungspraktiken bei Lebensmitteln” ist also lediglich die Etablierung eines “Diskussionsprozesses zwischen den beteiligten Gruppen (Verbraucher, Wirtschaft, Lebensmittelüberwachung)” um in späteren Phasen des Projektes die “Entscheidungsgrundlagen für mögliche staatliche Maßnahmen zu verbessern”. Dass tatsächlich Maßnahmen ergriffen werden, um Verbraucher vor Produkttäuschungen zu schützen, ist zunächst nicht zu erwarten.
Ist es das, was passiert, wenn das Ministerium für unser leibliches Wohl und zugleich für das digitale Vergnügen zuständig ist? In der Angelegenheit von hübsch verpacktem Nahrungsgdreck ist das Internet nicht schuld und nicht böse, sondern der Heilsweg:
Ein gesundes Deutschland durch ein gesundes Netz.
Wann haben Ihre Eltern Sie über die Verführungskraft dick- und süchtigmachender Triple-Chocolate-Muffins aufgeklärt? Ja, Erziehung und Bildung sind für unsere Essensgewohnheiten wichtig. Doch das Wissen darum, was gesund und gut ist, hält mehreren Einschränkungen nicht stand: Gelüsten, Zeitnot und Geld.
Ein Internet-Pranger für Lebensmittel wird nicht nur wenig auf einverleibte Ernährungsweisen wirken, da Onlinediskussionen über Pressfleisch und Gurkenabfall im Mayonaisebad wenig verhaltenstherapeutischen Wirken entfalten, er wird zudem nur eine winzige Zielgruppe erreichen. Rentner, sicher im Umgang mit Netz und Maus, Kleinkindeltern mit zu viel Sorge und zu viel Zeit und alarmierte Junkfood-Produzenten werden – bei großer Langeweile – den köstlich beschriebenen Müll in einem Forum enttarnen oder ihn verteidigen. Wir nehmen uns wenig Zeit, Essen frisch geerntet und gegart auf den Teller zu bringen, denn diese Zeit wird oft auf andere Aktivitäten verwendet. Darunter auch sexistische Gedanken: ein besonders waghalsiger Autor bei “The European” sieht einen der Gründe einer “Epidemie der Fettleibigkeit” bei einer eigentlich erfreulichen Entwicklung “mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt”. Doch woher sollen diese Frauen, die unerhörter Weise Kind und Ehemann nicht mehr mit Selbstgekochtem beglücken, die Zeit nehmen, sich über das Internetportal der Verbracherzentralen einen Überblick über die guten und die schlechten Fertigerichte zu verschaffen? Und während der Sprössling im Garten mit Papa Ball spielen will, lädt dieser statt dessen ein Bild von verzuckerter Fruchtmasse ins Netz.
Dass wir durch die Bemühungen, minderwertige Lebensmittel auf einer zentralen Website zu outen, nicht gesünder, schlanker und jünger werden, ist aber nicht das wahrhaft traurige Szenario. Bedenklich wäre eine staatlich geförderte, am Ende zwanghafte Beschäftigung mit der Güte von Essen. Von der 2007 initiiterten Kampagne des Bundes “Leben hat Gewicht”, eine Informationskampagne zur Prävention von Essstörungen, hat man schon lange nichts mehr gehört. Über einen stark klischeebehafteten Umgang mit Essstörungen, an deren Ende das bulimische Bekenntnis einer prominenten Fernsehschönheit steht, kommen Medien und Politik zudem meist nicht hinaus. Die Gründe für ein gestörtes Verhältnis zu Körperbild und Essen sind vorrangig psychischer Natur – da kann man auf Magermodels und Mädchenmagazine schimpfen, so viel man will.
Nicht unwichtig ist jedoch auch die Ernährungserziehung von Kindern, die maßgeblich durch das Vorleben im familiären Umfeldes geprägt ist. Eine übermäßige Beschäftigung mit Nährwerten, organischer Reinheit und Garzeit des Essens am Mittagstisch lässt Kinder nicht unbeeindruckt – und das nicht immer im Guten. Orthorexia Nervosa ist als eigenständige Essstörung bislang medizinisch nicht anerkannt. Die krankhafte Fixierung darauf “gesund” zu essen, ist jedoch je nach Ausprägung Spielart einer Zwangsstörung und schleichender Übergang zu einer Magersucht oder anderen Form der klinischen Essstörungen. Orthorektiker leiden zudem oftmals aufgrund des Verzehrs einer stark limitierten Palette von Lebensmitteln und Zubereitungsarten an Mangelerscheinungen, oder erleben einen hohen Leidensdruck durch ihre eigens gewählte Kasteiung, die zur Sucht wird.
Die wenig lustvolle Realität der deutschen Esskultur ist, dass Pärchen einander anschreien, weil der Koch aus der Sicht der Bekochten zwei Löffel Sahne zuviel in die Pfanne gab. Ein Teenanger weint, weil der fettige Anblick der Pizza Panik um die mit Mühe scharf gehungerten Hüftknochen schert. Eine Mutter ihren Sohn verfrüht vom Kindergeburtstag abholt, da die Gastgeber keine Bio-Würstchen servieren. Eine Familie beschämt zur Tafel geht, um mit den dort erhaltenen Lebensmittelspenden etwas Warmes zu kochen.
Wenn mein Kind das Twittern lernt, soll es nicht über eine Website stolpern, die ihm die Schokolade verbietet. Sollte dies einmal passieren, tröstet es sicherlich unser benachbarte Metzger mit einem ungesundem, aber wunderbar sympathischen Stück Pressfleisch: einer Scheibe Gesichtswurst.