In jeder Kultur beinhaltet die Sozialisation Toilettentraining. Das bedeutet nicht, dass es nicht eine riesige Freude sein könnte, einfach laufen zu lassen, das bedeutet zunächst einfach wirklich nur das: In jeder Kultur hat es sich etabliert, dass kleinen Kindern beigebracht wird, Harn- und Stuhldrang so weit zu kontrollieren, dass sie einen geeigneten Ort aufsuchen können. Ebenso wird in jeder Kultur die Kopulation üblicherweise im privaten Rahmen vollzogen. Und jede Kultur kennt die Privatheit des inneren Erlebens.
Der amerikanische Anthropologe Donald Brown eine Liste von „Human Universals“ zusammengestellt, Verhaltensweisen und Begriffe, die es in jeder Kultur gibt. Diese menschlichen Konstanten sind nicht unbedingt gut. Es gibt beispielsweise in jeder Gesellschaft Vergewaltigung, obwohl sie wiederum in jeder Gesellschaft verboten ist. Es ist eben nicht ganz leicht, den Menschen diese Human Universals abzugewöhnen. Die Jakobiner haben es nicht geschafft, die Religion (ebenfalls in ausnahmslos jeder Kultur anzutreffen) auszumerzen – und es bleibt abzuwarten, ob es den Post-Privacy-Propheten gelingen wird, die Privatheit zu beseitigen. Es ist interessant, dass die Debatte um Öffentlichkeit und Privatheit sich in Deutschland ausgerechnet am so langweiligen Thema Google Street View entzündet. Es will mir einfach nicht gelingen, dazu so etwas wie eine Meinung zu entwickeln. Wollte jemand mein Haus fotografieren, so würde ich mal so antworten, mal so. Wollte mir dagegen jemand einreden, meine Privatheit sei eine historische Besonderheit, die mich in Wirklichkeit nur einengt, würde er rasch merken, dass jede Kultur einen Gesichtsausdruck für Ärger kennt, auch meine.
Eric Schmidt, der CEO von Google hat seinen Standpunkt bereits Ende vergangenen Jahres mit einem Satz verdeutlicht, den auch Mütter gerne sagen, wenn sie ihren Kindern erklären, warum diese ihr Kinderzimmer nicht abschließen dürfen: “If you have something that you don’t want anyone to know, maybe you shouldn’t be doing it in the first place.” Anne Roth, in deren Privatsphäre von Seiten des Staates aufgrund eines absurd fadenscheinigen Terrorismusverdachts gegen ihren Lebensgefährten durch Hausdurchsuchungen, Telefon- und E-Mail-Überwachung brutal eingedrungen wurde, hält die Post-Privacy-Theorie für eine Glaubensrichtung: „Für einen Glauben halte ich das, seit ein weiterer Verfechter, Christian Heller, mir im Frühjahr bei einer Veranstaltung zum Thema erklärte, dass die ganze Post-Privacy-Theorie nicht für das Hier und Jetzt, sondern quasi als Utopie, für nach der Abschaffung der Herrschaftsverhältnisse, gedacht sei.“ (Es ist übrigens sehr komisch und hoffentlich als Scherz beabsichtigt, dass Anne Roth das privat gesprochene Wort Hellers in einer öffentlichen Diskussion über Privatheit gegen ihn verwendet.)
In die gleiche Kerbe schlägt der Leser Brett in den Kommentaren zum Artikel Digitale Zwangsneurosen: ““Alles” ist die Ur-Strategie von Google und gewisser der utopische Antrieb ihrer Gründer. Alle Websiten durchcrawlen und durchsuchbar machen war der Anfang. Alle Bücher einscannen. Alle Bilder auffindbar machen. Die Ganze Welt von oben anschauen. Alle Straßenpläne der Welt. Alle Hotels. Alle Taxistände. Alle Gebäude. Das dann noch am besten durch alle Zeiten, also auch rückwärts bis in die Antike. Alle Anwendungen. Es ist die Tollheit des Wunsches nach Totalität. Da gibt es kein Ruhen.“
Der von Roth zitierte Christian Heller äußert sich öffentlich in seinem Blog wesentlich zurückhaltender: “Entsteht vielleicht auch ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass man in verschiedenen Kontexten verschiedene Identitäten abgibt? Dass man in dem und dem Beruf jemand anders ist als auf der und der Junggesellenparty? Ein größeres Bekenntnis zum Spielen mit Identitäten, zum Jemand-anders-Sein, zwischen World of Warcraft, Xing und MySpace? “ Interessanterweise war es von jeher akzeptiert, dass Menschen verschiedene Identitäten hatten. Es ist eine zeitgeschichtlich junge Entwicklung (in
Vor gar nicht so langer Zeit habe ich mir noch eine erfrischende Wirkung der sich verschiebenden Grenzen des Privaten erhofft: “Die Welt war immer schon voller kleiner Geheimnisse. Viele sind im Verborgenen bestens aufgehoben, anderen tut das Licht der Öffentlichkeit gut, weil der Geheimnisträger von der Last befreit wird, zu glauben, er gehe besonders eigenartigen, ja perversen Leidenschaften nach. Das Bekenntnis zu Abtreibungen auf dem Titel des «Stern» in den siebziger Jahren, das mutige Coming-Out von Homosexuellen, die in der Öffentlichkeit stehen, waren Grenzverschiebungen des Privatlebens in den öffentlichen Raum, die die Gesellschaft haben freier werden lassen. Das öffentliche Bekenntnis der Jugend, sich am Wochenende zu betrinken, vielleicht sogar gigantische Joints zu bauen, im Urlaub Peinlichkeiten zu begehen, schlechte Witze zu machen – letztlich: jung zu sein – hat möglicherweise nicht die gleiche Güte. Aber sie könnte, wenn die Jungen von heute selber Eltern werden, ein guter Schutz vor Bigotterie sein.” Nun ist aber längst üblich geworden, sein Online-Profil so ausführlich zu polieren, dass man jederzeit mit den Google-Suchergebnissen zu seinem Namen in ein Bewerbungsgespräch ziehen könnte. Der Trend geht zur totalen Reinheit. Wer würde schon in einem Fetisch-Forum unter Klarnamen posten? Und wäre das tatsächlich wünschenswert? Am Ende ist das Private so rein wie eine Fußgängerzone.