Die zunehmend werberische Professionalität in Facebook ist, höflich gesagt, ambitioniert. Da sitzen die Senior-Marketeers in ihren Conference-Calls und lassen sich einen Bart darüber wachsen, welche der unzähligen Social-Media-Strategien, von Experten in teuren Workshops empfohlen, wohl die beste sei, um in Facebook dort zu landen, wo alle hinwollen: auf „Seite 1″. Das ist die News-Seite bei Facebook, die jeden nach dem Einloggen damit überschüttet, wer im individuellen Netzwerk was, wann und mit wem zusammen öffentlich angeklickt oder geäußert hat. Jede Bewegung findet sich auf „Seite 1″ wieder, es sei denn, man versteht sich darin, die richtigen Hakenkombinationen bei den vielschichtigen Sicherheits- und Privacyeinstellungen zu setzen.
Normalerweise ist es so: Wenn ich zum Beispiel mein Profilbild ändere, erscheint diese Nachricht bei allen meinen Freunden auf „Seite 1″. Wenn jemand dazu einen Kommentar abgibt, bin ich bei all seinen Freunden auf „Seite 1″. Wen mein Profilbild interessiert, kann sich weiter einklicken. Die Gier nach Aufmerksamkeit ist grenzenlos, die Anzahl möglicher Vermittler exponenziert sich mit jedem Klick in einem Umfang, dass einem Werber schwindelig werden muss. Alle Unternehmen wollen nun auf „Seite 1″, denn von hier aus werden die Klicks verteilt. Der Verteilungserhitzer Facebook scheint dabei wie ein Selbstläufer, ein werberisches Eldorado. Aber ist den Produkt-Managern eigentlich klar, womit sie zu konkurrieren versuchen, wenn sie es nach vierzig Workshops in zehn Marketing-Departments landes- und europaweit endlich geschafft haben, eine Facebook-Community zu gründen?
Die Haltbarkeit einer Facebook-Nachricht auf „Seite 1″ beträgt je nach Netzwerkgröße wenige Minuten bis ein paar Stunden. Dann ist die Pole-Position auf dem oberen Bildschirm abgelaufen und von neuen Nachrichten überholt. Runter scrollen tun nur die, die keinen Fernseher haben. Oder, wer sein Abendessen ins Büro bestellt hat und schnell was Lustiges erleben will, wie ein von Freunden empfohlenes youtube-Video, bevor die nächsten vier Stunden im Office weiter geschaltet und gewaltet wird. Die halbe Stunde ist frei von der Diktatur des Black Berrys oder Microsoft Office. Die gönnt man sich dann voll und ganz für das soziale Leben oder was davon übrig bleibt: Freunde, andere Leute oder um der Freundin kurz für übernächsten Dienstag zuzusagen. Unter Vorbehalt versteht sich, man weiß ja nie, was plötzlich auf den Schreibtisch flattert.
Aber auch bei weniger gestressten Facebook-Nutzern ist die Konkurrenz um Aufmerksamkeit knallhart. Zum Beispiel sehe ich mir auf „Seite 1″ die neusten Fotos der Selbstverwirklichung einer Freundin an. Sophia Münchhausen habe ich von Anfang an die Daumen fest gedrückt, dass sich ihr verrückter Traum vom eigenen Schmuck-Label tatsächlich umsetzen lässt. Ganz so, als könnte man sich einfach so mal selbstständig machen. Voller Stolz klicke ich mich durch die Kollektion und setze ein „Daumen nach oben” drunter, dass ihre Firmengründung nun sichtbare Ergebnisse liefert. Vergöttere sie dafür, dass sie sich bei Berlinale-Parties einschleicht, die Stars direkt anspricht und ihnen ratzfatz ihre Ketten umhängt: Foto her, Drinks her und weiter durchs Getümmel. Dabei kommt sie gar nicht erst auf die Idee, sich von den Umwegen abschrecken zu lassen, die professionelle Public Relations und Marketingkanäle vorschreiben. Noch mal ein „Daumen nach oben”. Zweimal „Seite 1″ für alle meine 928 Freunde.
Es sieht nicht gut aus für die Marketingmanager, wenn sie auf „Seite 1″ mitmischen wollen: Es muss denen außerdem klar sein, dass sie sich zwischen Aufrufe zu Partys quetschen, zwischen Einladungen zum Abendessen oder gemeinsamen Tatort-Glotzen in Kneipen; und das nicht nur im Hier, sondern auch aus Städten und Ländern kommend, die man schon vor fünf Quartalen verlassen hat. Drei neue Wohnorte sind mittlerweile dazugekommen und überall wird am Wochenende getobt. In der Krise. Nach der Krise. Bis zur nächsten Krise allemal noch. Präsent ist, was Wochenende für Wochenende läuft, ganz so, als wäre man um die Ecke und könnte vorbei gehen, ohne Meilendistanzen zu überwinden. Man wird nicht vergessen, man ist im Netz.
Doch diese News sind alle harmlos im Vergleich mit den wirklich wichtigen Nachrichten, die einen auf „Seite 1″ umfangen. Lernt man jemanden an einem Abend kennen oder trifft sich zufällig am Bahnhof, werden keine Nummern ausgetauscht. Facebook? Facebook, klar. Hinterlässt derjenige auf „Seite 1″ seine Spuren, setzt ein Sog ein. Schneller als man klicken kann, zeigt die Pinnwand, die persönliche News-Seite, das Leben des Anderen. Die digitale Persönlichkeit gescannt, an einem Foto hängen geblieben: Was ist das für ein Blick, den der Schnappschuss einfängt? Woher kennen die sich überhaupt? Schnell die Facebook-Freunde durchleuchtet, gemeinsame Freunde überflogen, die Lebenswege rekonstruiert. Kommt eine direkte, florierende Kommunikation trotz der vielen technischen Möglichkeiten nicht zustande, holt Facebook das beste aus uns raus: Ein kleiner Detektiv steckt in jedem und nun wird skrupellos beschattet, wem man in echt so selten begegnet. Wer umschwirrt ihn, wo war er, mit wem ist er neu befreundet? Gierig werden die ins Netz hinterlassenen Informationen nach irgendeinem Anhaltspunkt durchforstet. Nichts drängt sich mehr zwischen die Obsession und ihr Futter. Wirklich nichts? Vielleicht passt zu dem Aufschäumen der Emotionen doch noch eine kleine Werbung, für schöne, neue Schuhe zum Beispiel, denkt sich da der Werber.
Fakt ist: Facebook war avantgarde und damit nur für uns. Es war persönlich von Freund zu Freund. Ich hätte es in meiner naiven Abwehr am liebsten, dass es auch so bleibt. Das Establishment kann doch in Second Life weiter vermarkten. Das versteht kein Mensch und stört nicht weiter, denn Second Life war viel zu kompliziert in Gang zu bringen, zumindest für jemanden, der nicht viel Computer spielt. Schon beim Einrichten meines virtuellen Ichs war ich, hoffnungslos überfordert von all den Fragen nach meinem gewünschten Charakter. Ganz im Gegensatz zu Facebook, da bin ich ganz ich selbst.
Der Verfall von Facebook hat allerdings schon eingesetzt. Nicht nur, dass ich die neunzehn Gruppeneinladungen in der Woche stumpf wegklicke. Mittlerweile ist die Suche im eigenen Netz nach Freunden immer verstrickter. Sich auf Facebook mit dem echten Namen einzutragen ist so 2009. Viel besser man verfälscht eine Giorgina zu G-Orangina oder Max zu X-Mas. Das eigene Netzwerk an bestätigten Freunden ist dadurch nicht mehr zu überschauen und das Versteckspiel im vollen Gang. Wer will schon, dass die Kollegen verfolgen, was man am Wochenende getrieben hat oder was für entkleidende Menschen man noch so kennt. Das will man auf keinen Fall auf „Seite 1″!
Facebook ist sehr viel raffinierter geworden, als man am Anfang vermutet hat. Das brachte die erste Erschütterung mit sich und lässt anmuten, wie es ohne das sichere Facebook-Netzwerk wäre. Wenn man seine Freunde nicht mehr erreichen könnte, nicht mehr Freund Nr. 462 zum Geburtstag gratulieren könnte. Facebook hat sie alle und ist so bequem. Doch was hält schon für die Ewigkeit? Der Ehrgeiz der Firmen, für sich ein Stück vom Aufmerksamkeits-Kuchen abzuschneiden, ist verständlich, aber harte Arbeit. Doch sollte deren Mühen uns zu anstrengend werden, ziehen wir eben weiter zu dem nächsten Netzwerk, zur nächsten „Seite 1″. So wie wir es schon mit aSmallworld, Schwarzekarte, Schüler- und StudiVZ gemacht haben. Bis dahin mag es noch eine Weile hin sein, aber wirklich treu ist die Masse der Konsumenten doch nie gewesen. Aber das wissen die erfahrenen Marketeers wohl am allerbesten.
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Sophie von Maltzahn ist ausnahmsweise kein Pseudonym,
sondern die höchst wohllöbliche Praktikantin
der FAZ-Feuilleton-Online-Redaktion
woselbst noch mannigfaltig
von ihr zu hören
sein wird.