… eigentlich ein dröges Thema, aber seit der Finanzkrise in aller Munde. Was sind Stresstests? Und wozu sind sie nützlich? Wenn überhaupt?
Viele Worte wurden bereits über das Eigenkapital der Banken und dessen immense Bedeutung verloren. Was vor zwei Jahren noch ein ausgeprägtes Spezialgebiet für wenige Experten war, ist heute Allgemeingut jeder Provinztageszeitung. Geradezu inflationär wurde der Gebrauch während der Hochphase der Finanzkrise mit all den Bankpleiten und täglich neuen Skandalen, und gerade aktuell stellt sich allenthalben die Frage: wenn doch der Stresstest im Sommer bestanden wurde, wie kann es jetzt wieder so tiefschwarz aussehen in der Bankenwelt?
Auch wenn das Thema in den letzten zwei Jahren entschieden an Glamour gewonnen hat, und das obskure Fachwissen dazu plötzlich gefragter denn je auf dem Arbeitsmarkt ist: im Grunde genommen ist es immer noch eine dröge Materie. Von Gesetzes wegen sind Banken überall auf der Welt verpflichtet, für jeden verliehenen Betrag einen bestimmten Prozentsatz an Kapital vorzuhalten, den sie sicher anlegen müssen, zu Teilen bei der eigenen Zentralbank. Die Ermittlung des notwendigen Eigenkapital ist unendlich kompliziert. Verschiedene Arten von Geldleihe werden nach Art, Laufzeit und Schuldnerqualität mit Prozentgewichten (meist kleiner 100 %) versehen, und am Ende muss die Summe der gewichteten, ausstehenden Positionen dem Eigenkapital entsprechen. Das ist die einfache Variante. Komplizierter geht natürlich auch, aber damit mögen sich die Experten befassen.
Der Zwang zur Eigenkapitalunterlegung begrenzt die Möglichkeit, Geld zu verleihen und schafft einen Puffer für plötzliche Verluste. Die Kernfrage ist: was hält der Puffer aus?
Das ist zugegebenermaßen keine triviale Turnübung. Zuerst muß das Portfolio aller Vermögensgegenstände und Schulden einer Bank aufgestellt werden. Für jeden einzelnen Kredit muß geschätzt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Schuldner nicht zahlt, wieviel zu diesem Zeitpunkt von dem Kredit noch aussteht, und wieviel davon er im Falle eines Ausfalls möglicherweise doch noch zurückzahlen wird. Diese Zahlen kann heute niemand wissen. Es sei denn, man setzte all sein Vertrauen in Glaskugeln oder Sternguckerei – und folglich muß man auf Basis historischer Daten schätzen. Die Schätzung wird natürlich immer besser, je mehr Erfahrung und je bessere Daten aus der Vergangenheit verfügbar sind – aber es bleibt eine Schätzung.
Immerhin kann man daraus allerdings ableiten, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Verluste eintreten werden, wobei kleine Verluste wahrscheinlicher sind als große. Für jeden einzelnen Kredit ist daher eine Verteilungsfunktion bestimmbar, die angibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit welcher Verlust eintreten könnte. Dem zugrunde liegen etliche Annahmen über die Zahlungswilligkeit und -fähigkeit des Kreditnehmers, welche statistischen Verteilungen bestimmte Risikogrößen angemessen widerspiegeln, wie bestimmte Größen miteinander zusammenhängen und andere Dinge, die sich nur noch mit mathematischem Fachvokabular ausdrücken lassen.
Auftritt des Committe of European Banking Supervisors, das per allerhöchstem Dekret der Europäischen Union den Stresstest für ausgewählte Großbanken verordnete, woraufhin im Sommer 2010 die Wirtschaftsprüfer und Bankaufseher in Frankfurt, respektive Bonn, ausrückten und zur Tat schritten. Zwecks Prüfung der Widerstandskraft der diversen Banken wurde geschätzt (!), wie sich die Banken bei unterschiedlichen Entwicklungen der Wirtschaftslage schlagen würden, und natürlich – sonst wäre es die Übung ja nicht wert, erwarten uns gemäß dieser hypothetischen Szenarien düstere Zeiten.
Auf der Liste der Schrecken standen Verlangsamung des BIP Wachstums, Abwertung des Euro und Veränderungen des Zinsniveaus. Wie sehr es allerdings ein „extremes Szenario” ist, eine Abwertung des Euro anzunehmen, wie wir sie bereits im Mai erlebt haben, läßt sich schon hinterfragen. Auch die Minderung des BIP-Wachstums im schlimmen Fall (siehe Bild) bleibt immerhin deutlich hinter dem schwarzen Jahr 2009 zurück. Naiverweise könnte man meinen, daß die reale, aktuelle Situation (wie sie sich Anfang des Jahres präsentierte) nicht unbedingt geeignet ist, eine schlimmere Zukunft zu simulieren. Obendrein krankte das Konzept daran, daß das Committee zwar zwei Szenarien (ein gutes, ein schlechtes) vorgab – diese Szenarien jedoch für jedes Land und jede Bank individuell in Risikoparameter übersetzt werden mußten, mit komplizierteren Methoden für komplexe Banken, und einfacheren Ansätzen für kleinere Institute.
Im Alltagsbetrieb rechnet jede größere Bank regelmäßig aus, wie groß ihre Risiken unter Berücksichtigung der absehbaren und ferneren Zukunft sind. Dabei verhält es sich mit der Wirtschaftsvorhersage wie mit dem Wetter: je länger der Planungshorizont, desto unsicherer die Prognose. Mit vernünftigen, moderaten Mittelwerten geht man selten fehl, wenigstens kann einem aber später niemand Vorwürfe machen. Statt nun aber die erwarteten Ausfallwahrscheinlichkeiten und -beträge mit moderaten Annahmen zu errechnen, wird beim Stresstest mit schlimmen Extremannahmen gerechnet. Was sich simpel anhört ist in der Realität hochkompliziert, weil im Laufe des Prozesses Annahme auf Annahme, Schätzung auf Schätzung und Wahrscheinlichkeit auf Wahrscheinlichkeit gehäuft werden.
Was passiert, wenn die Konjunktur einbricht, und mit welcher Wahrscheinlichkeit wird die Konjunktur um eins, zwei, oder drei Prozent nachlassen, und mit welcher Wahrscheinlichkeit führt das zu einer Euro-Abwertung und zu Verschiebungen der Zinskurven? Fragen über Fragen und keine Antworten, nur Schätzungen. Fast könnte man fragen, wie groß der Unterschied zu einem morgendlichen „Ich schätze, daß ich so gegen sieben Uhr von der Arbeit heimkomme, Schatz” ist.
Was nicht heißen soll, daß Stresstests nicht informativ sein können. Sie sind seit Jahren auf Ebene ganzer Banksysteme essentieller Bestandteil der Arbeit des Internationalen Währungsfonds, sie gehören zu jeder vernünftigen Risikosteuerung in Banken und haben durchaus ihre Berechtigung. Wer morgens intuitiv seine Heimkehrzeit schätzt, weiß ja auch aus langer Erfahrung um seine Arbeitsbelastung, die Kollegen, die Gewohnheiten jedes Werktags. Ebenso beruhen auch statistische Schätzungen auf Erfahrungswerten, allerdings solchen, die in 0 und 1 gefasst in einer Datenbank liegen. Der Stresstest sagt also, mit einem gewissen Unsicherheitsabschlag, durchaus etwas darüber aus, wie widerstandsfähig Banken gegenüber bestimmten Schocks sind.
Schon im Sommer 2010 jammerten die Banken über allerlei Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlungen, schon vor Monaten fragten kritische Geister, ob das EU-weite Stresstesting nicht nur Kosmetik zur Beruhigung der Massen und Medien sei? Ob die Szenarien nicht allzu milde und harmlos gewählt seien? Auch kann man sich fragen, ob es nach all dem Gerede über systemische Bankrisiken und Interdependenzen besonders schlau war, die Tests für einzelne Banken durchzuführen – dann aber dem gesamten Bankensystem in der Zusammenfassung doch „strong resilience” zu unterstellen.
Da stehen wir also nun und betrachten mit Verwunderung, daß die Realität sich anders entwickelt hat als wir dachten, die Probleme anders als erwartet aussehen und die Ergebnisse leider auch. Man sollte Risikomodellen nicht grundsätzlich mißtrauen – wohl aber den Experten, die daraus Wahrheiten in Stein meißeln wollen, die auf tönernen Füßen stehen.