Familie, Verwandte, Bekannte – wir überhäufen uns zu Weihnachten achtlos mit Büchern. Wer das alles lesen soll? Ganz bestimmt nicht Sie selbst.
Selten in Schönschrift, mit Schleifenband und einem adretten Grußwort, dafür aber umso öfter verschicke ich Weblinks an meine Familie, damit meine Eltern und Geschwister, mit denen ich in einer chronischen “wir-telefonieren-immer-aneinander-vorbei”-Beziehung stehe, zumindest eine grobe Idee von dem haben, was ich eigentlich gerade tue, denke und fühle. Da meine Mutter schon immer gerne heimlich mein Tagebuch las – ländliches Post-Privacy im Jahre 1999 – sind meine Blogtexte für sie vermutlich nur halb so spannend wie die mit Füller nieder geschriebenen Gedanken meiner frühen Jugend; meine Eltern lesen meine Blogs dennoch bisweilen und filtern aus diesen Texten erstaunliche Informationen heraus.
Als ich nach Weihnachten meine Koffer packte um zurück in meine Wahlheimat zu reisen, spielten meine Mutter und ich das übliche Spiel: sie bietet mir so lange die übrigen 5 Kilogramm Weihnachtsplätzchen an, bis entweder ich nicht mehr nein sage, oder sie müde wird, sie anzupreisen. In diesem Jahr war ich stärker. Doch meine Mutter eröffnete eine zweite Runde: sie hatte in einem meiner Artikel gelesen, ich äße gerne Manner-Schnitten, und hatte aufgrund eines kleinen Nebensatzes in einem kleinen Artikel im Internet mehrere Beutel der österreichischen Haselnussschnitten gekauft, um mein Gepäck- und Hüftspeckvolumen mit der Kalorienbombe zu erweitern. Auch diese Runde entschied ich für mich – gegen die Mitnahme der Süßigkeiten.
Es ist eine traurige Welt, in der Jugendliche nur noch online miteinander kommunizieren und dort ihre Identität errichten “bei gleichzeitigem Rückzug aus der Wirklichkeit”, doch ich fand es immer eine kalte Realität, in der eine Mutter kein anderes Thema kennt als Essen. (Da ist sie nicht die einzige Mutter, gegen die all die bösen Pro-Ana-Blogs dieser Welt im Einfluss auf die Entwicklung einer Essstörung übrigens sehr, sehr mager und blass aussehen.) Und so entrüstete ich mich im Rückblick auf die Feiertage schon am Mittagstisch, sie könne doch mal aufhören übers Essen zu reden, besonders während des Essens bei Tisch, sei Essen nun doch ein langweiliges Thema, ich halte Essen zudem für kein Diskursthema, und ich wolle jetzt auch wirklich nichts mehr essen.
Sondern atmen; wahlweise Sex.
Ich verschicke gerne Links, ich freue mich über E-Mails mit Links zu langen, klugen Texten, mag Diskussionen zu Texten im Netz, zu denen man über den gleichen Link gefunden hat, den jemand in einem sozialen Netzwerk teilte. Mit Links an meine Eltern werde ich in Zukunft sparsamer umgehen, denn die Meinungsbildung, die beim alleinigen Lesen eines Artikel vor dem Rechner geschieht, ist in Familien und anderen Gemeinschaften, die sich näher stehen als Diskussionsteilnehmer auf einer Online-Plattform, komplexer, und vor allem weniger rational. Denn wenn Sie und Ihr Vater nicht zufällig im gleichen Berufsfeld arbeiten, gemeinsame, außergewöhnliche Hobbies teilen oder Anhänger desselben Fußballvereins sind, spielen Emotionen eine nicht unwichtige Rolle in der Beurteilung eines Textes, der sich hinter dem zugesandten Link verbirgt. Schicke ich meiner Mutter feministische Texte, denkt sie, sie hätte als Mutter versagt. Schicke ich meinem Freund Links zu Architekturblogs, denkt er, ich wolle ausziehen. Verweise ich eine gute Freundin auf eine Fotostrecke auf einem Modeblog, das ich mag, ist sich sich ganz gewiss, nicht nur sie selbst, sondern auch ich fände sie jetzt zu fett.
Ähnliches passiert, wenn Sie an Weihnachten Bücher verschenken. Die Beschenkten denken über die Buchpräsente dann entweder, Sie hielten sie für intellektuell minderbemittelt, oder empfinden es als Kritik an ihren jetzigen Lese- und Lebensgewohnheiten, verstehen es als Wink mit dem Zaunpfahl, einen Therapeuten zu konsultieren oder sich gleich das Leben zu nehmen.
Mein Lieblingsbeispiel: meine Mutter schenkte mir vor ein paar Jahren ein Ratgeberbuch von Eva-Maria Zurhorst: “Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest”. Ich zitiere aus dem Klappentext: “Die meisten Scheidungen sind überflüssig”, glaubt Eva-Maria Zurhorst, die aus ihrer Erfahrung als Beziehungscoach reichlich Einblick hat in den Frust und die Rosenkriege vieler Paare. (…) Eine tiefe Beziehung und Liebe sind auch dort möglich, wo die Hoffnung vielleicht schon aufgegeben wurde. Ein flammendes Plädoyer für das Abenteuer Beziehungen und eine Liebeserklärung an die Ehe.” Ein schrecklich dummes Buch. Und sicher kein Buch für eine Frau Anfang 20, die Politik studierte, unverheiratet und außerdem gerade sehr verliebt war. Sie dürfen raten, welche Botschaften – außer der, dass meine Mutter nichts über mich weiß – ich diesem Geschenk entnahm.
Im Licht der falschen Geschenke besitzen gedruckte Bücher übrigens einen einzigen entscheidenden Vorteil gegenüber E-Books: Sie können sie dem Gönner an den Kopf werfen, wahlweise mit der Post zurück schicken. Dieser Umgang ist befriedigender als eine Datei zu löschen. Ihr iPad werden sie kaum einmal quer durch den Luftraum des Wohnzimmers schicken.
Bücher verschenken ist dennoch wunderbar, da die Lektüre Teil eines gemeinsam Erlebten sein kann. Viel mehr noch als die gemeinsame Erinnerung an Kinderbücher von Astrid Lindgren, “Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer ” oder “Hilfe, die Herdmanns kommen”, ist das Schöne an Büchern das gemeinsame Lesen, das Vorlesen.
So habe ich das Bücher in diesem Jahr entlang des Vorsatzes für 2011 variiert, keine Linkschleuder, keine Bücherschleuder mehr zu sein: ich habe eine winzige Bibliothek verschenkt. Ich bin Tochter in einer Familie voller Literatur-Nerds, in denen die verschenkten Bücher an den Feiertagen meist reihum gehen, und ein unliebsames Buchgeschenk damit ausgeglichen werden kann, da man ja das vom Bruder lesen kann, der mehr Glück hatte. Meine Familie bekam in diesem Jahr daher einen Stapel Bücher gemeinsam, ohne Zuordnung auf eine Person. Unter dem Baum habe ich jedes der Schriftstücke einzeln vorgestellt, erzählt, auf welchem Weg ich das Buch entdeckt habe, warum ich es nun weiterverschenke, was es mir bedeutet. Stellen Sie sich dieses Szenario vor wie “Die Vorleser” im ZDF im kleinen Kreis – und mit Herz, Haltung, Freude und Verstand. In der mich unverhofft überfallenden Begeisterung bei der Anpreisung der Bücher habe ich sogar noch einige Texte vorgelesen. (Was sonst nur an Sonntagen beim Frühstück vorkommt, wenn mich ein Politikerzitat besonders aufregt.) Und dann am ersten Weihnachtsfeiertag noch zwei. Und dann noch einen, als meine Großeltern zu Besuch waren.
Im Hinblick auf Mediennutzung war das die beste und die beglückenste Idee, die ich das ganze Jahr über hatte. Ich hatte wohl in der Flut der auf mich täglich im Netz einprasselnden Links vergessen, dass man Texte nicht allein verschlingen muss, sondern das gemeinsames Lesen Beziehungen pflegen kann, vielleicht noch besser als gemeinsames Essen. Ich habe mich auf diese Weise auch mal in einen Mann verliebt – fiel mir da ein- nackt, auf einem Bett sitzend, als wir uns schon mehrere Wochen kannten. Er hat mir eine Geschichte von Philipp Schiemann vorgelesen und es war um mich geschehen. Wer hätte gedacht, dass man einer Stimme und einer Art zu sprechen derart verfallen kann? Mit Romantik hat das allerdings wenig zu tun; ich bin eben, was Lesen anbelangt, ebenfalls ein Nerd.
Im Netz, wo Sie immer zu allem von allen etwas lesen können, sei es nun klug, dumm, belanglos, bahnbrechend, bin ich bislang noch nicht vereinsamt. Ich möchte aber an dieser Stelle den Abschied vom Hörbuch anregen. Und Sie daran erinnern, dass ein Berg bedrucktes Papier noch lange kein Geschenk ausmacht. Wenn Sie keine Tochter, oder keinen Enkel haben, der ihnen vorliest, komme ich auch gern vorbei.