Für eine Website müssen Sie keinen Erben einsetzen. Die netzpolitische Vision der deutschen Politik ist der digitale Radiergummi: ein Verfallsdatum als Antwort auf das ruhmlose Leben im Netz. Was mag das für ein Morgen sein, für das Sie ihre Spuren vorsorglich verwischen?
Kurz vor dem Jahreswechsel blicken Redaktionen zurück auf Vergangenes; kurz nach dem Weichen des Neujahrskaters blicken die Schreiber nach vorn: in jeder Zeitung, auf jeder Nachrichten-Website und auf nahezu jedem Tech-Blog finden sich Ausblicke in die Trends, die Chancen, die Umbrüche und die Herausforderungen des nächsten Jahres, die Gesellschaft und Technologie in ihrem Zusammenspiel bewirken und ihnen entgegentreten. Fernblicke in die Veränderungen, die die Zukunft mit sich bringt, haben oftmals verspielten Charakter, denn wer mit ein paar kühnen Thesen zockt, liegt vielleicht mit manchen richtig. Oder sie kratzen an der Utopie, wie beispielsweise in den Zukunftsprognosen des “Observer” (20 predictions for the next 25 years), wie zum Beispiel “A vaccine will rid the world of Aids” (Ein Impfstoff wird die Welt von Aids befreien) oder “We’ll be able to plug information streams directly into the cortex” (Wir werden Informationsströme direkt mit dem Hirn verbinden können”).
Der Ausblick, den die deutsche Politik in den ersten Tagen des Jahres wagt, besitzt weder den Mut und den Geist eines Spiels, noch den Wagemut auf große Ziele zu schielen und einen weiten Blick nach vorn zu werfen. Parteiinternes Gerangel um vermeintliche Machtpositionen, das Werben um vorzeigbare Begleiterinnen ins Kriegsgebiet, der Zank darum, welche Partei nun die Hartz-IV-Reform blockiere. Doch von den Ministerinnen, in deren politischer Verantwortung das Zukunftspotential liegt, über dessen Bedeutung man sich sogar parteiübergreifend einig ist, hört man nichts, oder Ideen nahe am Nichts: 10 Euro für die Chancengleichheit, Jungenförderung und “Hochschulen? Huch!”. Kinder, Bildung, Wissen – Zukunft also – tauchen in der politischen Plauderei nicht mit dem nötigen Ernst, auch nicht mit der bitter nötigen Leidenschaft auf.
Es ist unstrittig, es zeugte von Torheit abzustreiten, dass die Zukunft der Wissensvermittlung im Schoße der digitalen Medien liegt. Das umfasst die Bereitstellung von Wissen, den Zugang zu ihm und die Kompetenzen sich in der Vielfalt der alten und neuen Medien neues Wissen anzueignen und weiterzugeben. Doch ausgerechnte das erste Schlagwort, das die Politik als ihren Auftrag in den Schoß des neuen Jahres legte, ist etwas, das Wissen auslöschen soll: ein digitaler Radiergummi.
Nun sind Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und Ilse Aigner (CSU), Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, qua ihres Amtes für andere Themenbereiche als Bildung zuständig, jedoch hat Frau Aigner nunmehr seit einigen Monaten den inoffiziellen Titel der “Internetministerin” inne, da sie stets besonders kommunikativ ist, wenn es darum geht, die Verbraucherinnen und Verbraucher vor den Gefahren des Netzes zu schützen. Einseitig, aber hoch aktiv, zielen ihre Ratschläge zum Umgang mit dem Netz vor allem darauf ab, es nicht zu benutzen – oder zumindest das Netz nur unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen zu betreten: Abmeldung bei Facebook, Beantragung der Verpixelung des eigenen Heims bei Google Street View, das Ausradieren der eigenen Spuren im Web. An diesen Vorstößen wird deutlich: die beschützten Verbraucher müssen gebildet sein, um zu wissen, was hier geschieht. Wer sich blind auf die Empfehlungen der Ministerin verlässt, ist schnell bevormundet, für dumm verkauft und kein bißchen schlauer. Verbraucherschutz muss heute an erster Stelle Wissensvermittlung bedeuten, da der Schutz den Entwicklungen stets hinterher hinken wird. Das Ministerium kann mit Dioxin belastete Eier nur schwerlich vermeiden, dafür kann es jedoch darüber aufklären kann, welche Nahrunsgmittel geringere Gesundheitsrisiken bergen.
Doch Frau Aigner greift in einem ihrer ersten Interviews im neuen Jahr nicht zum Mittel der Aufklärung, sie greift zur symbolpolitischen Axt, die mehr Verwirrung und Hohn stiftet, als die Bürgerinnen und Bürger für das Leben im Netz weiter auszubilden. Die Ministerin verriet der Süddeutschen Zeitung in dieser Woche: “Deutsche Informatiker haben mittlerweile eine Art digitalen Radiergummi entwickelt: ein System, mit dem jeder seine Dateien und Bilder mit einem Verfallsdatum versehen kann, bevor er sie ins Internet stellt. Nach Ablauf dieser Frist kann die Datei nicht mehr aufgerufen werden. Wenn es funktioniert, käme das einem Radiergummi doch sehr nahe und ließe sich auch weltweit verkaufen.”
Das tiefere Einsteigen in technische Details dieser vermeintlichen Innovation ist an dieser Stelle nicht weiter nötig. Denkt Frau Aigner wirklich, selbst für den Schutz von Privatsphäre sensibilisierte Jugendliche würden die Bilder ihrer Abschlussfahrt mit einem Verfallsdatum versehen? Die jungen Eltern die Bilder ihres Neugeborenen? Der Filmblogger seinen cineastischen Jahresrückblick? Stellt sie sich die simple Technik eines Lassos vor, das auf Knopfdruck jegliche Bewegung von uns im Netz in das Nirvana der eigenen Festplatte zurückholt? Und: unter welche Strafen stellt der Staat dann die Sharing-Kultur, die das Netz und seine Nutzer erst beflügelt hat? Werden Screenshots illegal, wird das Zitatrecht beschnitten, das Recht am eigenen Bild erweitert – sogar für absolute Personen der Zeitgeschichte? Lässt sich die Frage danach, wie sich der juristische Begriff des Eigentums im Netz gestaltet, von einem Ratzefummel beantworten?
Der Umgang mit dem Netz und seinen Chancen gleicht in großen Teilen der Politik einem Szenario, in der Kinder in einem Klassenraum sich dem Lernen verweigern: von hunderten Begriffen an einer Tafel wischen sie die Kreideworte weg, bis nur noch “Internet” und “böse” übrig bleiben. Sie radieren spannende Aspekte der Zukunft, aufblühende Teile der Gesellschaft aus ihrem Aufgabenheft, um eine Welt zu schaffen, für die ein aufgeweckter Grundschüler zu weitsichtig ist.
Dieser Grundschüler weiß, dass Wissen tradiert wird, nicht ausradiert. Er wird fragen, wie es um die Ausgestaltung des “Freien Wissens” bestellt ist, welche Wissenbestände wir digitalisieren und verfügbar machen, anstatt sie wegzuschließen und dem Staub zu opfern. Seine Mitschülerin wird fragen, was wir gegen das Sterben der Bibliotheken tun, nicht, welche Websites sie aus Erwachsenensicht nicht besuchen darf, da diese “offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit unter Berücksichtigung der besonderen Wirkungsform des Verbreitungsmediums schwer zu gefährden”. Sie wird erschrocken sitzen vor den Videointerviews mit Holocaust-Überlebenden, die bewusst gedreht wurden, um ein Vergessen auszuschließen. Ihr Großvater entdeckt derweil an seinem Laptop verloren geglaubte Klassik-Vinylplatten, deren Tonspuren er auf Youtube wieder findet. Manchmal erzählt er seiner Enkeltochter, er hätte gerne mehr fotographisch dokumentierte Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend, um sie ihr zu zeigen. Es kann rührend sein, etwas längst verloren Geglaubtes in Kisten im Keller neu zu entdecken. Wenigstens Zeitungsberichte. Über den Krieg zu sprechen fällt ihm schwer, doch seine Gedanken sind die einzige Aufzeichnung.
Ein digitaler Radiergummi als Heilsbringer einer gesunden Gesellschaft zu propagieren, schwächt diese Gesellschaft in ihrem Selbstbewusstsein und der Umsicht ihres Handelns. Das Leben ist keine Blamage, Menschliches nicht peinlich. Die Verantwortung für Worte und Taten löst digitaler Tippex nicht von unseren Schultern.
Wer möchte sich anmaßen, bei der Erstellung eines Werkes, und erscheint es in diesem Augenblick noch so banal, über seine Relevanz für Familie und Freunde, für Forschung, für die Zeit nach einem willkürlichen Verfallsdatum zu entscheiden?
Vielleicht liegt dem Wunsch nach einem digitalen Radiergummi für User aber nicht ihr Schutz vor Hohn, sondern die die dringliche Bitte der Politik zugrunde, ein solches Zaubermittel auch über die Seiten der Geschichtsbücher reiben zu können, um eine Legislaturperiode zu bleichen, den engen Krawattenknoten zu vergessen, um später in der Altersruhe mit Blick auf den See nicht jedes Mal peinlich berührt zu zucken, wenn der eigene Name im Geschichtskanal fällt.