Vor rund fünf Jahren – also nach Internet-Zeiträumen gerechnet vor einem halben Menschenalter – schwärmte mir ein Bekannter von einer sensationellen neuen Erfindung vor, die seine Internet-Gewohnheiten nachhaltig verändert hätte: Er surfe jetzt fast gar keine Webseiten mehr direkt an, vielmehr abonniere er einen sogenannten RSS-Feed von seinen Lieblingsseiten. Dieser teile ihm automatisch mit, was es auf seinen favorisierten Nachrichtenseiten und Lieblingsblogs Neues gebe. Alles, was es dazu brauche, wäre ein sogenannter Feedreader, ein Programm, das ihm diese abonnierten Feeds auf den Rechner lädt. Manche Seiten geben nur kurze Inhaltsangaben in den Feed, dann buchstabiert man RSS als rich site summary. Bekommt der Abonnent hingegen den vollen Text (auch Bilder oder Audiodateien lassen sich über RSS weitergeben), spricht man eher von really simple syndication.
Dass mich diese Möglichkeiten übermäßig elektrisiert hätten, wäre stark übertrieben. Eigentlich war ich durchaus willens, dieser RSS-Sache eine Chance zu geben. Aber irgendwie verzettelte ich mich bei der Frage, welcher Reader denn nun für meine Zwecke der geeignetste sei, und alsbald geriet das Thema bei mir dann auch wieder in Vergessenheit. So groß erscheint mir das Problem, für das RSS die Lösung versprach, auch heute nicht. Man mag den Standpunkt vorgestrig finden, aber was die Bloggerin Anke Gröner anno 2005 dazu beisteuerte, würde ich auch heute noch unterschreiben: „Ich will mir nicht dauernd von einem Programm sagen lassen, was ich woanders gerade alles verpasse. Wenn ich auf ein bestimmtes Weblog klicken will, dann weil ich jetzt gerade in der Stimmung bin, da mal vorbeizuschauen, und nicht, weil mein Reader mir sagt, dass es sich jetzt grad besonders lohnt, weil was neues da ist.”
Aber mal ganz losgelöst von persönlichen Vorlieben und Gewohnheiten: Als Übertragungsstandard hat RSS zweifellos seine Verdienste; selbst auf Facebook funktioniert das Einbinden von Fotos und anderen Fremdinhalten (etwa von FAZ.NET) mit Hilfe von RSS. Als Anwendung für den normalen Netzbürger hingegen ist RSS hingegen immer ein Nischenphänomen geblieben. Jetzt haben Technikblogger der vielgelesenen US-Website Techcrunch diesen Datenstandard mit seiner speziellen Nutzungsweise sogar totgesagt. Nicht mehr über den Feedreader versorgten sich die Leser heute mit Inhalten, vielmehr seien Twitter und Facebook die neuen Hauptlieferanten des Internet-Traffics auf Techcrunch. Ganz unwidersprochen blieb diese Auffassung freilich nicht: Dave Winer, selbst ein Blogger-Urgestein und Entwickler des RSS-Standards, konterte mit der Replik, Westküsten-Technikblogger seien „größtenteils Arschlöcher”. RSS sei für die Netzarchitektur genauso zentral wie die Internet-Programmiersprache HTML, und wenn das alles so unwichtig sei, so Winer, dann könne Techcrunch seine Website doch gleich dichtmachen und alle Beiträge nur noch über Twitter und Facebook verschicken.
So wogte dieser US-Bloggerpromistreit in der ersten Januarwoche hin und her und via Twitter, Trackbacks und Kommentare das Netz rauf und runter. Und im Prinzip könnte man das Gerangel von jenseits des großen Teichs auch getrost ignorieren, wäre der Streit um die Bedeutung von RSS nicht Teilschauplatz eines viel größeren Paradigmenwechsels im Netz. Das gehört längst nicht mehr den technikaffinen Kreisen exklusiv, zunehmend tummeln sich auch Erika Mustermann und Otto Normalverbraucher in der einstigen Nerd- und Geek-Domäne. Je mehr das Internet in der Mitte der Gesellschaft ankommt, desto mehr tun sich darin auch Nutzer um, denen zentrale Kulturtechniken wie das Eintippen einer URL in die Browserzeile und das Abspeichern und Wiederfinden von vielbesuchten Seiten in den Bookmarks allenfalls marginal vertraut sind. Wozu mühselig eine Adresse eintippen, wenn eine Google-Suche auch ans Ziel führt? Die Analyse der meistgesuchten Suchbegriffe legt jedenfalls den Schluss nahe, dass viele Nutzer Google offenbar mehr oder weniger für das Internet an sich halten. Anders ist es kaum zu erklären, dass diverse Suchbegriffe rund um Facebook (wie zum Beispiel „Facebook login”) zu den meistgesuchten Schlagworten bei der marktführenden Suchmaschine gehören.
Die offenen Standards, die chaotische Struktur des vernetzten World Wide Web mit dem Hyperlink als dem zentralen Bindemittel sind für diese neuen Nutzerschichten kein Wert an sich. Solange der Bedienkomfort und der Spaßfaktor stimmen, bewegt man sich auch gern innerhalb geschlossener Systeme („walled gardens”) wie Facebook, Xing oder myspace. Die setzen zwar auf der Struktur des Internets auf, sind aber nicht wirklich Teil des WWW. Solche „geschlossenen „Datensilos” sieht WWW-Erfinder Tim Berner-Lee als eine der größten Gefahren für das Netz in der nahen Zukunft. Die Postille „Wired”, das Zentralorgan der Nerds, titelte im vorigen August sogar schon „The web is dead – long live the internet”. Unstrittig ist soviel: Die geschlossenen Systeme binden immer mehr Nutzerströme und auch Investitionen. Verlage und Sender tüfteln mit Hochdruck an Apps, also an proprietären Anwendungen, die dem Nutzer ihre Inhalte auf das mobile Endgerät bringen, sei es nun auf das Smartphone oder auf einen Tablet PC wie der ipad. An einem offenen und universal verwendbaren System wie einem mobiltauglichen RSS-Nachfolger hat kein Marktpartner ein Interesse.
„Wired”-Redakteur Chris Anderson sieht die Entwicklung als unausweichliche Folgeerscheinung des Kapitalismus: „Die Geschichte der industriellen Revolutionen ist eine Geschichte der Kämpfe um Kontrolle. Eine Technologie wird erfunden und verbreitet sich, dann blühen tausend Blumen, und schließlich findet jemand einen Weg, diese Technologie zu besitzen und andere auszuschließen. Es ist die alte Geschichte, die sich immer wieder wiederholt.” Dass die Nutzer sich immer mehr in den umzäunten Gärten von social networks und mobilen Apps tummeln, hieße nicht zwingend, dass sie die Vorstellung des offenen Web ablehnten. Es sei nur so, dass die abgesteckten Plattformen mit ihren Interaktionsmöglichkeiten anscheinend besser in ihr Leben passten.
Aber muss man aus alledem den Schluss ziehen, nur den geschlossenen Datensilos wie Facebook, Xing & Co. gehöre die Zukunft – und das browsergestützte Internet wäre tot? Blättern wir doch mal zurück: In den späten 90ern hatte das Magazin „Wired” schon einmal das Ende der Browser-Ära ausgerufen und sogenannte Push-Dienste als das Modell der Zukunft gepriesen. Wie man inzwischen weiß, kam es anders, und dem sogenannten Webcasting auf irgendwelchen „channels” war keine große geschäftliche Zukunft beschieden. 2002 wurde auf einer Veranstaltung namens „wireless wednesday” vorhergesagt, dass die walled gardens in den nächsten zwei, drei Jahren aussterben würden. Drei Jahre nach dieser mutigen Vorhersage legte der Medienmogul Rupert Murdoch mehr als eine halbe Milliarde Dollar für die Community myspace auf den Tisch, die gerade das uncool gewordene Netzwerk friendster als eine der heißesten Adressen des Internets beerbt hatte. Heute hat myspace massive Probleme und baut in etlichen Ländern Personal und Repräsentanzen ab, während die Fachwelt sich fragt, ob das auf 50 Milliarden Dollar taxierte Facebook das Ende des offenen Internets, wie wir es kennen, bedeutet. Dabei ist es genauso gut möglich, dass wir den heißesten Sch**ß des Jahres 2016 heute noch gar nicht kennen – und dass Facebook bis dahin eine nicht mehr ganz so coole Adresse ist, so wie heute myspace oder friendster. Wenn man sich all die Prognosen und Vorhersagen der letzten zwei Jahrzehnte zum Thema Internet noch mal vor Augen führt, dann landet man unweigerlich bei einem Gedankengang, den Karl Valentin einst in das schöne Bonmot gegossen hat: „Die Zukunft ist auch nicht mehr, was sie mal war.” Aber Karl Valentin war halt Humorist und kein Technikblogger, sonst hätte er sicher geschrieben: „Die Zukunft ist tot.”