Adam Smith gilt als Vorreiter des egoistischen Menschenbildes, das die Wirtschaft regiert. Und Kant hat dort ohnehin nichts zu suchen. Oder?
Möglicherweise allerdings hätten Smith und Kant sich sogar eine ganze Menge zu sagen. Jedes Kind lernt Kants den Satz über den Ausgang aus der Aufklärung und auch kategorischen Imperativ in der Schule auswendig:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. “
Ein von mir sehr verehrter Lehrer beklagte vor einigen Jahren, Kant würde inzwischen so verdreht, daß Gymnasiasten mit der Intepretation “Wie Du mir, so ich Dir” durchs Abitur kämen – was zwar intuitiv verständlich scheint, aber natürlich viel zu kurz gegriffen ist. Kant zu verstehen und zu schätzen, muß man das gesamte, komplexe Gedankengerüst drumherum wahrnehmen und begreifen: den guten Willen, die Pflicht, die Achtung fürs Gesetz, Selbstgesetzgebung als Freiheit.
In der Volkswirtschaftslehre (wie auch in vielen anderen Sozialwissenschaften) hängt man immer noch dem homo oeconomicus an, und der kann natürlich keinen Kant zitieren. Meist wird Adam Smith zur Legitimation des egoistischen Menschenbildes herangezogen:
„As every individual, therefore, endeavours as much as he can, both to employ his capital in the support of domestic industry, and so to direct that industry that its produce maybe of the greatest value; […] He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it. By preferring the support of domestic to that of foreign industry, he intends only his own security, and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain; and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. „
Das liest sich sehr anders als Kant, natürlich. Ganz nebenbei bemerkt, wäre Smith wohl bitter enttäuscht gewesen, wie wenig der moderne Konsument bereit ist, seine nationale Volkswirtschaft zu unterstützen. Vor allem aber wäre er enttäuscht, daß „Wealth of Nations” so viel bekannter wurde als die „Theory of Moral Sentiments”. Smith war nämlich keineswegs der Vorreiter jenes kaltherzigen, egozentrischen Kapitalismus, als der er heute wahrgenommen wird. Adam Smith hatte sogar ziemlich viel übrigen für Moral.
„The regard to those general rules of conduct, is what is properly called a sense of duty, a principle of the greatest consquence in human life, and the only principle by which the bulk of mankind are capable of directing their actions.[…]. Without this sacred regard to general rules, there is no man whose conduct can be much depended upon .”
So geschrieben in der oben erwähnten „Theory of Moral Sentiments” (S. 129). Sogar der Begriff der Pflicht, der bei Kant eine so fundamentale Rolle spielt, kommt vor, auch wenn Smith Moral eher mit Religion verbindet.
In jedem Fall sind aber beide Konzepte eher sperrig, vor allem wenn ungelenke VWLer Pfoten sie in Formeln pressen wollen, um sie für ihre Theorien nutzbar zu machen. Sei es wegen dieser Sperrigkeiten, sei es, weil gerade Kants Moralphilosophie von vielen als allzu abstrakt und schwierig angesehen wird: man hält sich lieber weiter an das rationale Menschenbild. Das nämlich ist sehr einfach abzubilden, indem man eine Nutzenfunktion aufstellt. In ihrer simpelsten Form hängt Nutzen nur vom Konsum ab, und je größer der Güterkonsum, desto größer der Nutzen. Wenn es um Wahlalternativen geht, kann man diese in eine Reihenfolge bringen und auch damit läßt es sich ganz passabel rechnen. Je nach Anwendungsfeld kann auch Fortpflanzung oder die Anzahl der Kinder Nutzen spenden – das alles ist mathematisch durchaus noch umsetzbar und dann optimierbar.
Für Adam Smith oder gar Kant ist jedoch in solchen Konstrukten kaum Platz. Dies ist umso unverständlicher, als das rationale Menschenbild allgemein als überholt gilt. Menschen gehen wählen, obwohl der Einzelne kaum Einfluß auf den Ausgang hat – folglich keinen Nutzen. Menschen geben Trinkgelder in Restaurants, selbst wenn sie dort nie wieder speisen werden. Menschen helfen anderen Menschen, selbst wenn sie diese nie wiedersehen werden.
Menschen wählen auch nicht immer rational und gerade wenn es um Kaufpreise und Werte geht, kennt die Irrationalität keine Grenzen. Spätestens seit Amartya Sens Aufsatz „Rational Fools”, der auch über die Wissenschaftsgemeinde hinaus Aufsehen erregt hat, weiß das eigentlich jeder. Trotzdem sind Modelle, in denen Moral vorkommt, selten.
Eine Möglichkeit ist es, moralischen Handlungen als etwas zu definieren, was egoistischen Nutzen stiftet. Damit konterkariert man zwar das Konzept des Egoismus, und schmeißt auch gleich noch den Kern von Smiths „invisible hand” und Eigennutzen über Bord, aber immerhin ist Moral dann irgendwie drin, wenn auch unter Sträuben und Widrigkeiten. Sehr viel eleganter sind Ansätze, die moralische Regeln als vorab-Bedingung definieren.
Ein sehr interessanter Aufsatz von Lanse Minkler erklärt am Beispiel von Spenden und Eigenkonsum, wie das gehen könnte. Einen Teil seines Einkommens zu spenden könnte dann als grundsätzliche Maxime verstanden werden, die auch mit allem sittlichen Wert à la Kant ausgestattet werden kann – gewissermaßen als Dekoration im Hintergrund, auch wenn es keine Auswirkungen auf das Ergebnis hat, ob die Moral kantischer Art ist oder irgendwie anders motiviert. Allerdings hat diese Variante einen Nachteil: wenn ein Individuum zuerst einen fixen Teil seines Budgets als Spende gibt, bevor es selbst konsumiert, gibt es nur die „alles oder nichts” Variante. Entweder man spendet, weil man diese Maxime hat, oder man spendet nicht. Die menschliche Wankelmütigkeit und Schwäche, das Streben nach moralischem Verhalten und das gelegentliche Scheitern können damit nicht abgebildet werden.
Ein anderer Forscher hingegen hat genau das möglich gemacht. Eine der Schwierigkeiten besteht darin, daß sich zwar Kants „unvollkommene Pflichten” problemslos in eine Nutzenfunktion integrieren lassen, indem man dem Individuum eine Präferenz für moralische Verhaltensweise mitgibt. Die „vollkommenen Pflichten” hingegen, die eher Verbotscharakter haben, finden darin keinen Platz. Angesichts der Tatsache, daß die Nutzenfunktion solcher Modelle ohnehin meistens durch eine Budgetfunktion Beschränkungen unterliegt, führt der Autor einfach eine moralische Beschränkungsfunktion ein, die bestimmte Verhaltensweise untersagt. Damit lassen sich am Ende sogar mehrere Nutzenfunktionen definieren, mit mehr oder weniger viel Moral darin und diese wiederum erlauben eine sehr viel feiner Differenzierung, die der Realität entspricht. Menschen sind manchmal moralisch, manchmal aber auch nicht.
In jedem Fall ist es immer wieder überraschend, was Wissenschaft alles zu leisten vermag. Sogar Kant passt am Ende in theoretische Modelle und der homo oeconomicus lernt den Begriff der Pflicht kennen – wenn man nur will.
Bedauerlicherweise hat sich meines Wissens noch niemand die Mühe gemacht, solche extravaganten Konzepte tatsächlich anzuwenden. Falls Sie, geschätzte Leser, ein Beispiel finden, fände ich das ganz wunderbar, aber ich muß gerade mal wieder die Welt retten und habe keine Zeit zum Suchen.