Als die ägyptische Regierung dieser Tage die Internet-Knotenpunkte und Mobilfunknetze sperrte, twitterte ein Zeitgenosse, das Land solle sich auf Englisch künftig Gypt nennen und nicht mehr Egypt. Aber egal ob mit oder ohne E vorne – das Land am Nil steht vor großen Veränderungen. Und während die Massenproteste gegen das Regime von Hosni Mubarak trotz der verhängten Ausgangssperre weitergehen, hat die Whistleblower-Organisation Wikileaks eine regelrechte Ägypten-Offensive gestartet und vorgestern eine Vielzahl diplomatischer Depeschen veröffentlicht, die von den Zuständen in Agypten kein sehr schmeichelhaftes Bild liefern.
So kabelte US-Botschafterin Margaret Scobey im Januar 2009, Folter und Polizeiübergriffe seien in Ägypten “weitverbreitet und gängige Praxis”. Mit brutalen Methoden gehe die Polizei nicht nur gegen einfache Kriminelle vor, sondern auch gegen Demonstranten, politische Gefangene und Unbeteiligte, die zur falschen Zeit am falschen Ort seien. Nach Aussage eines Anwalts für Menschenrechte werde in Ägypten seit der Zeit der Pharaonen gefoltert. Informanten aus Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sprechen von Hunderten von Fällen jeden Tag allein in Kairoer Polizeistationen. Berichte über Brutalität der Polizei sind an der Tagesordnung, selbst Streitereien über Strafzettel eskalierten bisweilen bis hin zu tödlichen Schüssen auf Bürger. Schlechte Ausbildung und Personalmangel tragen zu dem Problem der Polizeibrutalität bei, hinzu kommt erheblicher Druck seitens der Vorgesetzten, Fälle zu lösen, egal wie. Bei Ermittlungen in Mordfällen sei es nicht unüblich, dass die Polizei willkürlich 40 bis 50 Personen aus der Nachbarschaft inhaftiert und so lange an den Armen an der Decke aufhängt, bis jemand gesteht. Die alltägliche Polizeigewalt hat inzwischen sogar Eingang in die Fernsehunterhaltung gefunden: In einer populären Fernsehserie prügelte jüngst ein TV-Ermittler Informationen aus Verdächtigen heraus.
Anderen Depeschen zufolge geht das Regime systematisch und proaktiv gegen Andersdenkende vor. Journalisten und Blogger sehen sich Repressalien ausgesetzt, ein Regierungsbeamter wurde sogar zu drei Jahren Gefängnisstrafe verurteilt wegen eines unveröffentlichten Gedichts aus seiner Feder, das angeblich Staatpräsident Mubarak beleidige. Besonders abgesehen hat es das Regime auf Blogger aus dem Umfeld der oppositionellen Muslimbruderschaft. Informanten der US-Botschaft bestätigten, dass der Staatsapparat die jungen und technisch versierten Blogger aus dem Umfeld der Bruderschaft fürchte “wegen ihrer Fähigkeit, breite Unterstützung für die Bruderschaft zu mobilisieren und über das Internet Protestkundgebungen und andere Aktionen zu organisieren”. Dem Drängen der US-Diplomatie Richtung weiterer demokratischer Öffnung des Systems habe sich Ägypten bisher stets verweigert mit dem Hinweis, dass damit unweigerlich die extremistische Muslimbrüderschaft gestärkt werde.
De facto befindet sich Ägypten seit dem Sechstagekrieg 1967 nahezu ununterbrochen im Ausnahmezustand. Die Notstandsgesetzgebung räumt dem Präsidenten weitgehende Möglichkeiten ein, Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit einzuschränken und Verdächtige praktisch unbegrenzt ohne richterliche Anhörung zu inhaftieren. Nach Erkenntnissen der US-Botschaft wurde dieses Instrumentarium in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem gegen islamistische Extremistengruppen wie Al-Jihad und religiös-politische Aktivitäten der Muslim-Bruderschaft eingesetzt. Aber in jüngster Zeit häuften sich auch die Fälle, in denen die Notstandsgesetzgebung gegen Blogger und Gewerkschaftler angewandt werde.
Wenig Anerkennendes wissen die US-Depeschen über das ägyptische Militär zu berichten. Die Armee befinde sich “im intellektuellem und sozialen Abstieg”, und die Offiziere zählten kaum noch zur gesellschaftlichen Elite. Besonders die Offiziere im Mittelbau haderten mit dem Verteidigungsminister, den sie für inkompetent halten und der unbedingte Gefolgschaft und Treue weitaus höher schätze als fachliche Fähigkeiten. Gleichwohl ist die Armee ein zentraler Faktor im innerägyptischen Machtgefüge, mit dem weiterhin zu rechnen ist – gerade auch in der immer dringlicheren Frage, wie sich die Nachfolge Mubaraks gestalten könnte. Offiziell hieß es im Hause Mubarak stets, es existiere kein präferiertes Nachfolge-Szenario, aber für die US-Diplomaten im Land galt es seit längerem als ausgemacht, dass Hosni Mubarak seinen Sohn Gamal als Wunschkandidaten sieht. Ob freilich das Militär Gamal unterstützen würde, falls sein Vater im Amt stürbe, ist laut den US-Depeschen alles andere als sicher. Dem Sohn fehlt jeglicher militärischer Hintergrund, den noch jedes ägyptische Staatsoberhaupt seit 1952 mitbrachte. Sowohl Mubarak Senior als auch seine beiden Vorgänger Nasser und Sadat hatten militärische Laufbahnen absolviert, bevor sie den Sprung ins höchste Staatsamt schafften. Falls es Mubarak aber gelänge, seinen Sohn im Zuge eines geordneten Übergangs mit Wahlen als Nachfolger zu installieren, würde sich das Militär nach Einschätzung von US-Informanten nicht gegen Gamal stellen.
Als wichtige Karte im Poker um die Macht sehen die US-Depeschen auch den Mubarak-Vertrauten und langjährigen Geheimdienstchef Omar Suleiman (den Mubarak erst vor wenigen Tagen zum Vize-Präsidenten ernannt hat). Das Rennen um die nächste Präsidentschaft sei offen. Ein hoher Regierungsbeamter hält es auch nicht für undenkbar, dass das Militär einen bis dato unbekannten Kandidaten als Joker aus dem Hut ziehen könnte. US-Botschafter Francis J. Ricciardone gab in einem Memo vom Mai 2007 die folgende Prognose ab:
„Whoever Egypt‘s next president is, he will be inevitably politically weaker than Mubarak, and once he has resumed the post, among his first priorities will be to cement his position and build popular support. We can thus anticipate that the new president may sound an initial antiamerican tone in his public rhetoric, in an effort to prove his nationalist bona fides to the Egyptian street, and distance himself from Mubarak’s politics. If history is any guide, we can also expect the new president to extend an olive branch to the muslim brotherhood, as did Gamal Abdel Nasser, Anwar El Sadat, and Mubarak early in all of their terms, in an effort to co-opt potential opposition, and boost popularity.”
„Wer auch immer Ägyptens nächster Präsident ist – er wird unweigerlich politisch schwächer sein als Mubarak. Seine ersten Amtshandlungen werden darauf abzielen, seine Position zu festigen und breiten Rückhalt in der Bevölkerung aufzubauen. Wir können daher davon ausgehen, dass der neue Präsident antiamerikanische Töne anschlagen wird, um dem Mann auf der Straße seine aufrechte nationalistische Gesinnung unter Beweis zu stellen und sich von Mubaraks Politik zu distanzieren. Sollte die Geschichte einen Hinweis auf Zukünftiges liefern, steht zu erwarten, dass der neue Präsident versöhnliche Gesten in Richtung der Muslimbrüderschaft macht, wie es auch Gamad Abdel Nasser, Anwar El-Sadat und Mubarak zu Beginn ihrer Regentschaft praktiziert haben – zum einen, um potenzielle Opposition einzubinden und zum anderen um seine Popularität zu steigern.” (Übersetzung vom Verfasser dieses Beitrags)
Könnte gut sein, dass diese Vorhersage wesentlich schneller als erwartet ihre Treffsicherheit unter Beweis stellen kann.