Die Welle der Proteste war gerade von Tunesien nach Ägypten weitergeschwappt, als sich Beobachter schon fragten, ob am Nil nun die nächste von Facebook und Twitter getriebene Revolution stattfände. Nach der mehrtägigen Abschaltung des Internets, welche die massiven Proteste im Land eher nicht abschwächte, könnte ich es jetzt kurz und schmerzlos machen und antworten: Nein, die nächste Facebook-Revolution in Ägypten wurde abgeblasen oder zumindest vertagt.
Aber das muss ja kein Hinderungsgrund sein, der Frage nachzugehen, welche Rolle Facebook, Twitter & Co. in den politischen Umbrüchen in der arabischen Welt und anderswo spielen. Unstrittig ist, dass sich in Ägypten über Facebook mehr als 80.000 Menschen verabredet hatten, am 25. Januar – dem Tag des Militärs – in Kairo zu demonstrieren. Wie auch schon zuvor in Tunesien diente das soziale Netzwerk den Unzufriedenen und Protestierenden als effiziente Plattform, um sich zu Aktionen zu verabreden, Videos von Protestaktionen und Auseinandersetzungen mit der Polizei zu verbreiten und sich über die Ereignisse auf dem laufenden zu halten. Die Politologin Cilja Harders von der Freien Universität Berlin hält es wegen des hohen Vernetzungsgrads der Demonstranten über Handys und soziale Netzwerke durchaus für angebracht, von “einer regelrechten Facebook-Revolution” zu sprechen. Noch begeisterter titelte Nate Anderson in dem Onlinemagazin Ars technica: “Tweeting tyrants out of Tunesia – Global internet at it’s best”.
Doch längst nicht alle Experten teilen diese euphorische Einschätzung: “Das Netz nützt dem Unterdrücker ebenso wie dem Unterdrückten”, warnt Evgeny Mozorov, Blogger und Autor des Buches “The Net Dilusion – the Dark Side of Internet Freedom”. Es könne die revolutionären Gefühle hervorragend anfeuern – und ebenso gut die Revolutionäre auffliegen lassen. Es könne die Lügen der Regierung entlarven, aber auch im Blitztempo Propaganda verbreiten. Zu denken geben müsste es den Befreiungstheologen digitaler Observanz zumindest, dass die weitgehende Abschaltung des Internets und der Mobilfunknetze die ägyptische Protestbewegung nicht nennenswert beeinträchtigt hat. Der Schriftsteller und Kolumnist Peter Glaser macht sich darauf einen eigenen Reim: “Die Totalblockade des Internet in Ägypten hat das Gegenteil dessen bewirkt, was das Regime beabsichtigt hat. 20 Millionen User hatten zu Hause nichts mehr zu tun, kein Netz – also gingen sie auf die Straße.”
Die Bilanz früherer Twitter-Revolutionen sieht jedenfalls nicht gerade berauschend aus: Weder bei den Unruhen in Moldawien noch im Iran vor den Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren hatte Protest-Gezwitscher nennenswerten Einfluss auf den Gang der Dinge. Die vermeintliche Twitter-Revolution im Iran dürfte eher auf einem westlichen Missverständis (man könnte auch sagen: einem Medienhype) beruhen. Tatsächlich werden nur die wenigsten Tweets mit dem Stichwort #iranelection tatsächlich aus der islamischen Republik gekommen sein. Trotzdem schlug ein twitter-begeisterter US-Experte für nationale Sicherheit vor, den Web-Nachrichtendienst für den Friedensnobelpreis zu nominieren, weil er jungen Menschen im Iran eine Stimme gegeben hätte, die sonst nicht gehört worden wäre.
Man fragt sich: Woher dieser Drang, Aktivisten mehr nach ihren Werkzeugen kategorisieren zu wollen als nach ihren politischen Zielen und Inhalten? Die iranische Revolution von 1979, die den Schah stürzte, nennt heute doch auch kein Mensch eine Audiokassetten-Revolution, nur weil bespielte Tonträger mit Brandreden des im Pariser Exil weilenden Revolutionsführers Ajatollah Khomeini massenhaft Verbreitung fanden. Vielleicht sagt diese ganze Retweet-Revolutions-Romantik mehr aus über uns als über das Geschehen an den echten Brennpunkten. Wir, die wir irgendwas mit Medien und Internet machen, können uns doch als Teil einer fortschrittlichen Bewegung aufgewertet fühlen, uns in dem guten Gefühl aalen, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Selbst diejenigen von uns, die ansonsten hauptsächlich Katzenbilder und Kindermund-Sprüche bloggen und den Füllstand des Büro-Kaffeeautomaten twittern, dürfen sich darin bestätigt fühlen, dass ihre “Free-Tibet”-Buttons, Zensursula-Protest-Posts und Retweets geharnischter 140-Zeichen-Polemiken vielleicht doch dazu beitragen, irgendwas zu bewegen. Und wenn nicht? Trotzdem gut, dass wir drüber gesprochen haben. Sprechen ist doch wichtig, steht so ähnlich auch im Cluetrain-Manifest.
Dabei gilt für echte Revolutionen die alte Fussball-Trainerweisheit: “Wichtich is aufm Platz.” Und das meint nun mal nicht places oder foursquare, sondern eher Tianammen Square oder Tahrir-Platz. Wir berauschen uns gerne an der Vorstellung, jeder kritische Tweet wäre ein Tritt in die Weichteile der Mächtigen, und unsere bösen Blogbeiträge würden sich die Betreffenden sowas von hinter den Spiegel stecken. Aber letztlich, seien wir doch mal ehrlich, sind das oft nur Ersatzhandlungen für echtes Engagement, mehr ein systemstabilisierendes Ventil für überschüssigen Druck als ein Katalysator echten Wandels. Und so wundert es auch nicht, dass hierzulande an echten Erfolgserlebnissen eklatanter Mangel herrscht. Wer bekam nicht schon alles sein Fett weg von der kritischen Netzöffentlichkeit: Jamba, Jack Wolfskin, Zensursula, Nestlé und BP. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass irgendwelche flammenden Aufrufe durchs Netz hallen, Free Tibet, Nein zur Vorratsdatenspeicherung, Nieder mit dem Quartsextakkord. Doch so schnell wie eine Erregungswelle hochkocht, ist sie auch wieder abgeebbt, schreibt Martin Szymanski auf paracuda.com: “Die ach so wachsame Community da draußen im Interwebz ist eben nur so wachsam, bis ihre Follower ins Bett gehen.”
Was war doch gleich mit dem Düsseldorfer Internet-Dienstleister Euroweb, der sich im Rechtsstreit mit dem Berliner Blogger René Walter für einige Tage dessen Internet-Domain Nerdcore.de sichern konnte? Euroweb werde nach dieser Auseinandersetzung “Geschnetzeltes” sein, tönte Walter in Interviews und klopfte massig markige Sprüche auf Twitter. Aber wer ihm seine Domain zurückbrachte, waren nicht die aufgestachelten Shitstormtrooper und Follower-Horden, sondern – ganz oldschool – ein Rechtsanwalt. Oder was war mit dem “ultimativen Tsunami in der deutschen Bloggerszene”, den der Blogger und Journalist Sascha Pallenberg mit einer brisanten Schleichwerbegeschichte lostreten wollte? Unappetitlich, dass bezahlte Werbelinks in diversen Blogs nicht als Werbung gekennzeichnet waren – aber letztlich auch mehr so ein Event aus der Kategorie “Sturm im Wasserglas”. Der gesäte Wind aus heißer Luft kam als Shitstorm zurück, zur großen Überraschung des Urhebers. Aber zumindest kam Pallenberg im Nachhinein die Einsicht, dass “ein wenig mehr Bescheidenheit” angebracht gewesen wäre.
Nico Lumma, Social-Media-Experte in Diensten der Werbeagentur Scholz & Friends, zog kürzlich für die deutsche Netz-Szene eine gelinde gesagt ziemlich zurückhaltende Zwischenbilanz: “Die Shitstorms der letzten Jahre waren allesamt laue Pupse, nicht mehr.” Einige Protagonisten der Netzöffentlichkeit litten aufgrund irgendwelcher PageImpressions, Verlinkungen oder Retweets an “gigantischer Selbstüberschätzung”. Lummas Wunsch für 2011: “mal ein richtiger Shitstorm. Über den die Menschen morgens in der U-Bahn reden, der abends beim Sport diskutiert wird und dann Thema beim Wort zum Sonntag wird.”
Man könnte sagen, der Wunsch ist in Erfüllung gegangen – nur eben nicht hier in Deutschland, sondern auf der anderen Seite des Mittelmeeres. Das sollte uns Mausklickhelden und den Vorturnern der Daseinsdigitalität aber keinen Vorwand liefern, den Volksaufstand in einer Weltgegend, die für uns bislang allenfalls als Urlaubsziel relevant war, für unseren ach so fortschrittlichen Lifestyle zu vereinnahmen.