Computer haben Bibliotheken nachhaltig verändert – findet die Autorin, aus eigener Anschauung als Bibiltheksnutzerin.
Vor einigen Wochen war ich zu Besuch in einer sehr kleinen Institutsbibliothek und stand vor einem Zettelkatalog. Ein großer Holzkasten mit vielen kleinen Schubladen, auf Metallschienen saßen die gelochten Kärtchen, auf daß sie niemand entwende. Autorennamen, Buchtitel, Schlagwörter, alles hübsch geordnet. Das war das letzte Mal, daß ich einen Zettelkatalog sah – ich bin nicht sicher, ob es das in zehn Jahren noch geben wird. Das letzte Mal, daß ich mit einem Zettelkatalog arbeitete, ist schon mehr als fünfzehn Jahre her. In den Bibliotheken, die ich heute nutze, sind Autoren, Titel und Schlagwörter nur noch in Computern gespeichert.
Ich mochte Bibliotheken schon immer, den etwas muffigen Geruch nach Büchern, die Ruhe, die netten kleinen Überraschungen, die einen manchmal zwischen Buchdeckeln erwarten: Unterstreichungen, Besserwisser, die Tippfehler korrigieren, gelegentlich fällt auch eine Konzertkarte aus den Seiten heraus – kleine Memorabilia eines völlig anderen Lebens, das meines für einen Moment lang streift. Erst heute allerdings wird mir bewußt, was für eine enorme Leistung der Erhalt und die Ordnung von Bücherbeständen bedeutet. Früher vielleicht noch mehr als heute.
Jeder, der mal versucht hat, seine – im Vergleich immer mehr oder minder bescheidene – Privatbibliothek zu sortieren, weiß, wovon ich spreche. Nach Autoren? Nach Themen? Zumindest aber Sachbücher und Belletristik getrennt und dann nach Autoren? Nach Ländern? Nach Sprachen? Und immer, wenn man ein Buch hinzukauft, muß man alle anderen weiterräumen, um es korrekt zu platzieren. Ich fand es schon als Kind faszinierend, wie Bibliotheken es schaffen, daß immer noch mehr Bücher in die Systematik passen – daß das eine Wissenschaft für sich ist, war mir damals nicht klar.
Wissenschaftliche Bibliotheken werden völlig anders gepflegt als zum Beispiel Stadtbüchereien. An der Universität muß auch unterschieden werden zwischen ein- und zweischichtigen Systemen, also dem Konzept von parallereler Uni- und Institutsbibliothek und wer worüber die Oberhoheit hat. Unvorstellbar, daß es Zeiten gab, als Zentral- und Fachbibliotheken nicht vernetzt waren und ihre Bestände nicht gegenseitig koordiniert haben. Als Nutzer haben mich solche Finessen kaum interessiert, in den ersten Jahren meines Studiums bin ich ganz ohne Besuch irgendwelcher Bibliotheken ausgekommen (es gab ja Skripten!), das habe ich später kompensiert, indem ich gleich vier Institutsbibliotheken parallel nutzte. Allerdings habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, warum alle nach ähnlichen Prinzipien funktionierten, weil alle am OPAC dranhingen. Das nämlich, ist eine echte Segnung der Neuzeit.
Früher blätterte man im Zettelkatalog und schlug die drei oder vier wichtigsten Schlagwörter nach. Heute sind wir alle suchmaschinen-klug und wissen, welche Wörter in den PC einzutippen sind. Nicht das Schlagwort ist bedeutend, sondern die richtige Kombination aus bestimmten Begriffen, eventuell mit Gänsefüßen, Wildcards und unterschiedlichen Verknüpfungen. Redundanz ist in Zeiten der EDV keine Tugend mehr, jedes Buch in derr Bibliothek hat mindestens zehn Tags und am Ende dauert die Suche eher länger als in der guten, alten, analogen Zettelzeit, weil jeder der über hundert Treffer geprüft werden muß. Vielleicht vergoldet die Erinnerung, aber ich meine mich zu erinnern, daß es früher mit Zettelkatalogen schneller ging und man weniger Zeit mit der Suche verbrachte. Das Ende der Möglichkeiten war früher erreicht und damit war es gut – man konnte die Recherche als vollständig betrachten. Heute sucht man immer weiter in der Hoffnung, die Nadel im Datenheuhaufen zu finden, die sich bisher den Suchanfragen entzogen hat.
Dabei waren zu der Zeit, als ich zum ersten Mal ernsthaft in Bibliotheken recherchiert habe, viele neuere Konzepte erst zwanzig Jahre alt. Die Idee zum Beispiel, in öffentlichen Büchereien Medien möglichst nach den Bedürfnissen des Nutzers zu präsentieren, die auf Dr. Heinz Emunds zurückgeht. Demnach stehen im Nahbereich Nachschlagewerke und aktuelle Informationen zur Verfügung, im Mittelbereich Bücher und Zeitschriften in Freihandaufstellung und der Fernbereich ist das Magazin, wo archiviert wird. Das kenne ich noch aus etlichen Stadtbüchereien, bei denen ich heute nicht mehr sagen könnte, in welcher Gegend oder Straße sie liegen – der Innenraum steht mir jedoch noch immer klar vor Augen. Ich kenne übrigens auch eine Unibibliothek, bei der direkt am Eingang Zeitschriften (vertretbar) und Bestseller (fragwürdig?) stehen – über solche Prioritäten in einer wissenschaftlichen Bibliothek kann man sich nur wundern.
Mit dem Präsentationskonzept ist natürlich noch nichts über die Klassifizierung gesagt, und auch da ist die Auswahl groß. Das Bekannteste dürfte die Allgemeine Systematik für Öffentliche Bibliotheken aus den 50er Jahren sein. Dabei werden 23 Buchstaben des Alphabets für die Einteilung in thematische Hauptgruppen verwendet, und danach (als zweiter, dritter etc. Buchstabe des Kürzels plus Zahlen) für die weitere Untergliederung nach Spezialgebieten. Das andere Deutschland hatte natürlich sein eigenes System – ein Rest deutsch-deutscher Teilung also auch im Bibliothekswesen.
Noch komplizierter sind wissenschaftliche Bibliotheken, scheint mir. Auch hier gibt es mehr Klassifikationssysteme als in einen Beitrag passen. Während das amerikanische System der Library of Congress mit sparsamen 21 Kategorien auskommt, wird im Regensburger Verbundsystem das Alphabet gleich mehrfach durchexerziert: jeweils zwei Buchstaben des Alphabets stehen für eine von 33 Hauptkategorien. Beide Systeme allerdings gehen in Teilaspekten auf einen gewissen Charles Ammi Cutter zurück: in der Library of Congress gleich das ganze System, im Regensburger Verbund immerhin die Verschlüsselung des Autorennamens in der Signatur. Wem das zuviel Aufwand ist, der kann natürlich auch Bücher einfach nach Größen sortieren: unten sehen Sie die Abteilung für giganteske Bücher einer charmanten, kleinen Institutsbibliothek.
Alle Technologisierung endet jedoch an der traurigen Realität der Nutzer. Bücher werden achtlos und falsch zurücksortiert, manche Exemplare verschwinden sogar ganz. Bücher haben doch heutzutage Magnetcodes im Rücken, ähnlich den runden Plaketten, die Kaufhäuser früher an ihre Kleidungswaren pinnten. Es ist mir rätselhaft, wie man ein Buch an den elektronischen Wachhunden an der Tür vorbeischmuggelt, die piepsend Laut geben, aber es geht, sonst wären die Bücher ja auffindbar. Oder nicht? Irgendwo habe ich ich mal gelesen, daß Unibibliotheken sogar studentische Aushilfskräfte einstellen, die falsch gestellte Bücher aufspüren.
Am Ende bin ich, wie so oft, geteilter Meinung bezüglich der schönen neuen Computerwelt. Einerseits vermisse das haptische, die unmittelbar erlebbare Suche in Bibliotheken, wie auch die überschaubare Informationsmenge, die ja parallel mit den Möglichkeiten der Archivierung und Zugänglichkeit zunimmt. Andererseits ist es natürlich großartig, Aufsätze in Zeitschriften jederzeit verfügbar zu haben, vom heimischen Computer die Verfügbarkeit von Büchern prüfen zu können, und das quer über alle Fachbibliotheken, inklusive Fernleihe.
Wie fast alles im Leben, hat auch diese Medaille zwei Seiten.