Zugegeben, die Ausgangslage erinnert ein bisschen an das Problem katholischer Geistlicher, Paaren vor dem Traualtar gute Ratschläge für Eheleben geben zu müssen. Oder trotz Keuschheitsgelübde Autorität in Fragen der Sexualmoral für sich zu reklamieren. Aber wie ist das im Internet, genauer gesagt im ach so angesagten Beritt Social Media? Muss man bei Facebook oder anderen Social Networks präsent sein und Freunde sammeln, ausgiebig twittern und ortsbasierte Dienste wie Foursquare und Gowalla nutzen, um wirklich kompetent mitreden zu können, was das alles taugt? Diese Frage warf Martin Weigert von netzwertig.com dieser Tage auf, inspiriert von einem ähnlich nachdenklichen Tweet aus der Feder von Alex Troll. Und ehrlich gesagt habe ich mir diese und ähnliche Fragen auch schon öfters gestellt, seit aus den Schutthalden des Dotcomcrashs irgendwann in den frühen Nullerjahren neues Onlineleben mit neuer Versionsnummer 2.0 zu sprießen begann.
Für Weigert liegt der Fall ganz klar: Eine Meinung zu Atomkraft zu haben, zum Auslandseinsatz der Bundeswehr oder dazu, inwieweit Gurken in der EU genormte Maße haben sollten oder nicht, sei einfach – nicht zuletzt, weil eigene Erfahrung bei derartigen Sachfragen eine untergeordnete Rolle spiele. Hierbei zählten mehr Fakten sowie das persönliche Wertekonstrukt. Social-Web-Dienste hingegen erforderten “eine aktive und länger andauernde Partizipation”, um zu einer kompetenten und fachkundigen Bewertung zu kommen, schreibt Weigert: “Das Web braucht seine Kritiker – aber nur solche mit den notwendigen Einblicken und einem Verständnis für die Dynamiken.”
Da mag man zunächst nicht grundsätzlich widersprechen. Eigene Erfahrungen sind sicher hilfreich bei der Beurteilung von komplexen Internet-Phänomenen wie Social Media oder ortsbasierten Diensten. Aber wenn ich diese Fragestellung jetzt mal aus der journalistischen Warte betrachte und weniger aus der Privatblogger-Perspektive, muss ich sagen: Das geht im Zweifelsfall auch ohne. Sich solchen Phänomenen von außen anzunähern, gehört gewissermaßen zum Handwerkszeug. Um über eine Kleintierzüchtervereinssitzung zu berichten, muss ich ja auch nicht dem Verein beitreten und noch mal die Mendelsche Vererbungslehre nachbüffeln.
Oder anderes Beispiel: Erinnert sich noch jemand an Second Life – die virtuelle Scheinwelt, die vor ein paar Jahren in aller Munde war und als das nächste große Über-Ding gehandelt wurde? Hat sich mir überhaupt nicht erschlossen, wofür ich das brauchen soll. Dabei hat es in meinem Bekanntenkreis nicht an Befürwortern und Enthusiasten gefehlt. Dennoch war mir ziemlich schnell klar, dass Second Life für mich wohl eher nichts ist und dass ich auch nicht erkennen konnte, worin der große Nutzen für die breite Masse liegen sollte. Das war zugegebenermaßen keine sonderlich fundierte Meinung. Aber ein wenig tröstet es mich schon, dass andere, die sich im zweiten Leben monatelang zum Teil mit mehreren Identitäten gleichzeitig tummelten, letztlich auch zu ähnlichen Schlüssen kamen. Sicher, die reine Faktenlage hätte man auch recherchieren können ohne eigenen Avatar. Aber wenn man nicht eintauche in diese Welten, sagt Rainer Bartel, “wird man nicht den Hauch einer Ahnung haben, was das ist, wie es sich anfühlt und was es mit einem anstellt.” Wobei die Frage ist, ob man das unbedingt wissen muss. Mit ähnlichen Worten hat man mir nämlich auch schon mal Opiumderivate zum Rauchen offeriert. Und trotz einer gewissen Aufgeschlossenheit und jugendlichen Experimentierfreude in diesen Dingen reichte mein Forscherdrang soweit dann doch nicht.
Freilich ist mein Urteil nicht unfehlbar. Ich habe mir in den Neunzigern nicht vorstellen können, dass unbequem zu tippende SMS-Kurznachrichten ein Riesen-Renner werden, dass verblendete junge Menschen später Geld dafür bezahlen würden, sich Klingeltöne und Handylogos runterzuladen. Oder dass man einfach irgendwelche Sachen, die einem grad durch den Kopf gehen, ins Internet reinschreibt und dann zur Bloggergemeinde gehört. Das erschloss sich mir auch nicht so recht – bis ich selber damit anfing. Gegen den Sog der sozialen Netzwerke hingegen stemmte ich mich lange. Zu einer Präsenz auf Facebook habe ich mich irgendwann von meiner Frau überreden lassen. Einladungen zu OpenBC (später Xing) ließ ich stets unbeantwortet. Vielleicht habe ich mich als Freelancer damit ja unwissenderweise um den Auftrag meines Lebens gebracht. Aber von den ganzen Freelancer-Kollegen, die dort ihre Visitenkarte reingestellt haben, habe ich bisher noch keine krachende Success Story gehört. Man ist da halt drin, weil, äh, man eben drin ist. Als Recherchetool mag das Ganze noch ganz nützlich sein, aber ich sehe eine Xing-Präsenz nach wie vor mehr als Kür denn als Pflichtprogramm.
Olaf Kolbrück, Redakteur und Blogger in Diensten der Fachzeitschrift “Horizont”, findet das zu kurz gedacht. Journalisten müssten sich an den digitalen Tresen der Social Networks stellen, ein offenes Ohr für die Geschichten und Themen mitbringen, die da besprochen werden, Gesicht zeigen und so weiter. Alles richtig im Prinzip, aber Kollege Kolbrück hat da auch den unschätzbaren Vorteil, dass er das Fachgebiet Social Media, E-Commerce und dergleichen beackert. Die Chance, dazu auf Facebook, Xing, LinkedIn & Co. brauchbaren Input zu bekommen, liegt naturgemäß sehr viel höher als in anderen, weniger netz- und unterhaltungsaffinen Themengebieten.
Für das allgemeinere Erkenntnisinteresse in Sachen Medienwandel, das mich umtreibt, ist es nicht zwingend notwendig, in jeder digitalen Kneipe Stammgast zu sein. Offen gestanden interessieren mich Details, was auf Facebook im einzelnen anders funktioniert als bei MeinVZ oder “Wer kennt wen”, auch nicht über alle Maßen. Ich werde mich desgwegen bestimmt nicht auf allen anderen Plattformen auch noch anmelden, um fundierter vergleichen zu können. Ich muss auch selber nicht twittern, um die Entdeckung zu machen, dass da durchaus nicht nur Belangloses in 140-Zeichen-Botschaften verbreitet wird, sondern auch manche kleine geistreiche Textperle. Auch würde ich ortsbasierten Diensten wie Foursquare nicht von vornherein jeden Nutzen absprechen wollen, nur weil ich persönlich die ständigere Eincheckerei wo man geht und steht etwas albern finde. Das hält mich aber nicht davon ab, meine Frau daran zu erinnern, wenn sie es vergisst, weil ich weiß, dass sie an diesen Spielchen ihren Spaß hat.
Die eigentliche Herausforderung liegt eben darin, die eigenen Maßstäbe und Erfahrungen nicht über Gebühr zu verallgemeinern. In diese Falle tappen die Social-Media-Enthusiasten nämlich genauso gerne wie die Skeptiker und Verweigerer. Es bereitet mir mittlerweile Bauchkrämpfe, wenn ich in irgendwelchen Netzdiskursen über Totschlagargumente stolpere wie zum Beispiel: “Der hat das Internet nicht verstanden.” Mehr als der wohlfeile Versuch, als Internet-Topchecker Distinktionsgewinne einzufahren, ist da in den seltensten Fällen dahinter. Martin Weigert schreibt in seinem Beitrag, er schätze und achte Personen, die Facebook, Twitter, foursquare & Co aktiv verwenden und daraufhin kritische Schlüsse ziehen und in die Debatte einbringen. Die Debatte mit Skeptikern, denen die persönliche Erfahrung mit derartigen Systemen fehlt, fiele ihm hingegen immer schwerer. Das ist menschlich und verständlich. Trotzdem vertrete ich vehement die Auffassung, dass sich der Netzdiskurs gelegentlichen Reality-Checks durch die Auseinandersetzung mit Offlinern, Skeptikern und Verweigerern nicht gänzlich verweigern sollte. Sonst mutiert das ganze Social-Media-Thema womöglich irgendwann auch zu einer abgehobenen Parallelwelt wie seinerzeit Second Life. Die Gefahr einer “digitalen Spaltung zweiter Ordnung”, die ich anno 2005 für reichlich alarmistisch hielt, ist vielleicht doch realer als ich damals dachte.