“Gelegenheit macht Diebe” – sagt der Volksmund (Zitat!). Aber ist es in der Wissenschaft tatsächlich die Gelegenheit Internet oder nicht doch ein grundlegender Wertewandel?
Mein Vater hat für seine Promotion noch Rechenzeiten am Computer beantragt und dann fleissig Lochkarten eingelesen. Die alte mechanische Schreibmaschine, auf der meine Mutter Wort für Wort abtippte, kenne auch ich noch – darauf habe ich tippen gelernt. Und mit Kohlepapier experimentiert. Damals war allerdings die elektrische Schreibmaschine bereits Standard – und ich wunderte mich als Teenager, wie man so viele Seiten ohne Korrekturtaste zusammenstellen konnte. Ich habe allergrößten Respekt vor Personen, die Dissertationen in mühevoller und vor allem manueller Kleinarbeit erstellt haben, und befingere gelegentlich mit Ehrfurcht solche Antiquitäten, deren Schriftbild von einer Anstrengung zeugt, die uns heute völlig fremd geworden ist.
Von den Annehmlichkeiten der Korrekturtaste sind wir nämlich weiter entfernt, als die Korrekturtaste von der hammermechanischen Schreibmaschine – die wenigsten allerdings denken darüber besonders viel nach. Obwohl das Tippen am Computer mehr denn je zu unser aller Alltag gehört, kenne ich erstaunlich wenige Personen, die noch blind tippen können. Obwohl die Bandbreite der zur Verfügung stehenden Technik sich immens erweitert hat, benutzen die meisten Studenten immer noch Windows. Dafür werden immer mehr Dissertationen auch in sozialwissenschaftlichen Fächern mit Hilfe empirischer Methoden geschrieben und verarbeiten Informationsmengen, die früher Überforderung pur gewesen wären. Kurz: das wissenschaftliche Arbeiten hat sich grundlegend verändert – und vielleicht auch tiefgehender, als man meinen sollte. Die Lochkarten von früher sind heute Excel-Tabellen und statistischen Spezialprogrammen gewichen, noch immer gilt jedoch: in naturwissenschaftliche Fächern fällt der Diebstahl geistigen Eigentums schwer. Man kann schließlich schlecht mit einem Kasten Mäuse aus dem Labor schleichen, und auch astrophysische Experimente macht man, oder macht sie eben nicht.
Ähnliches gilt für datenbasierte, empirische Promotionen: ein gewisses Maß an Eigenleistung läßt sich fast nicht umgehen – stellt die Auswertung der Daten doch den Hauptteil der Arbeit dar und das Aufschreiben ist nur noch lästige Formalie. Dabei eröffnen empirische Promotionen allerdings ganz neue Manipulationsmöglichkeiten.
Daten sind – mein ewiges Mantra – ein williger Diener des Menschen, und es gibt reichlich Mißbrauch – auch in der akademischen Welt. Angefangen mit Doktoratskandidaten, die in totaler Ahnungslosigkeit noch in ihrer Disputation nur sagen können: “der Koeffizient ist negativ, weil das Programm das so gerechnet hat” bis hin zur gezielten Manipulation. Extremwerte aus einem Sample auszuschließen kann einiges verändern, nicht zu reden von gezielter Selektion bei der Datenauswahl (Zeiträume, Regionen) über die Wahl der Methode bis hin zur Interpretation, wo gerne mal Korrelation und Kausalität verwechselt werden, wenn es nur dem Titelerwerb dient. Allerdings ist zumindest die Eigenständigkeit der Leistung meistens unbestreitbar – sieht man davon ab, daß mit Sicherheit manche Arbeit mehr als einmal gemacht wird. Unabsichtlich, allerdings: der Maßstab aller Forschung in vielen Fächern ist die Veröffentlichung in der Fachzeitschrift und negative Ergebnisse (die Falsifikation im guten, popperschen Sinn) gelten oftmals als unpublizierbar. Solche Arbeiten verrotten unbesehen von der Öffentlichkeit auf Festplatten, so daß manches Negativergebnis vermutlich mehr als einmal produziert wird.
Das war früher natürlich nicht anders, und mehr noch: manches Rad wurde mehrfach erfunden. Noch heute erleben wir das, wenn Nobelpreise an mehrere Personen vergeben werden, die zeitgleich ähnliche Ergebnisse erzielten – und das trotz aller Segnungen des Informationszeitalters. Wie mühsam und unsicher es erst früher gewesen sein muß, Jahre der Arbeit in ein Projekt zu stecken – nicht wissend, ob nicht zeitgleich irgendwo jemand mit derselben Idee die Nase vorn hat. Forscher sind allerdings bis heute oftmals Geheimniskrämer, die mit ihren Ideen lieber nicht hausieren gehen – denn Ideen eignen sich hervorragend für den Diebstahl.
Ideen – und Formulierungen. Wer jemals wissenschaftlich gearbeitet hat, weiß, daß manche Formulierungen so auf den Punkt gebracht sind, so treffend und einzigartig eloquent, daß jede Veränderung daran eine Sünde wäre. Sowas zitiert man einfach in Anerkennung der Leistung eines anderen. Alles andere formuliert man brav um und setzt mehr oder minder gründlich Fußnoten an alles dran. Früher wäre man niemals drumrum gekommen, solche Stellen abzutippen – es gab ja nur Papier auf beiden Seiten. Früher war das Abtippen oder Umformulieren einer Passage mühsame Arbeit – die Abwesenheit von Eigenleistung konnte einem beim besten Willen nicht entgehen.
Heute hingegen copypasted es sich so einfach, daß man viel leichter darüber hinwegkommen kann, daß man sich gerade die klugen Gedanken eines anderen aneignet. Natürlich nicht über hunderte von Seiten, aber ein oder zwei Stellen auf hundert Seiten würde ich wohl jedem zubilligen. “Gelegenheit macht Diebe”, sagt ein volkstümliches Sprichwort und nach all den Diskussionen der vergangenen Jahre (die Causa KTG war ja nur der fulminante Höhepunkt einer Serie von Berichten über manipulierte Daten, gekaufte Titel und Plagiatfindemaschinen) frage ich mich: macht die Gelegenheit Internet gleich einem Selbstbedienungsladen Diebe, oder hat sich unsere Mentalität gegenüber geistigem Eigentum grundlegend verändert?
Im Laufe meiner Universitätskarriere habe ich genug Personen getroffen, die selbst in läppischen Seminararbeiten nach bestem Wissen und Gewissen zitiert haben. Stunden damit verbracht haben, ihre Vorlagen nach eben jener Textpassage zu durchstöbern, an die man sich präzise erinnern konnte – und die doch nicht auffindbar war. An die inneren Kämpfe: streichen oder doch stehen lassen, auch ohne Fußnote? Ein Mal? All Fünfe gerade sein lassen? Doch umschreiben?
Andererseits habe ich in den letzten Jahren immer wieder gesehen, daß die jüngere Generation Wikipedia als zitierfähige Quelle betrachtet, daß Aufsätze und Referate zusammenkopiert werden (mit oder ohne Neuformatierung) und kaum ein Blogger mit Profil im Internet kann nicht etliche Fälle nennen, in denen seine Texte – zum Teil von namhaften Medien – ohne Quellenangabe übernommen oder ausgeschlachtet wurden.
Vielleicht ist es also tatsächlich nicht die Gelegenheit, sondern der mangelnde Respekt vor gedanklicher Arbeit. Geradezu grotesk mutet es an, daß ausgerechnet unsere Gesellschaft, die ihren Wohlstand mehr als jede Generation vor uns aus geistiger – statt aus manueller – Arbeit bezieht, den laxen Umgang damit zum Prinzip erhebt. Es will mir nicht in den Kopf, wie wir den dreisten Diebstahl industrieller Ideen durch die Chinesen verdammen, die Bildungsrepublik für alle gesellschaftlichen Schichten ausrufen können; aber dann geistiges Eigentum in jener Disziplin, die quasi das Mutterschiff geistigen Eigentums ist, mit Füßen treten.
Fängt man erst mal an, zu unterscheiden: “nur” Zeitungsartikel”, “nur von Journalisten” oder “nur aus einer Seminararbeit” ist die Rutschpartie auf der schiefen Bahn vorprogrammiert – denn wer entscheidet, welches geistige Eigentum schützenswert ist, und welches nicht, weil minderwertig? Nur weil die Früchte gedanklicher Arbeit leichter zu verteilen sind, weil sie theoretisch fast jedem, fast umgehend zur Verfügung stehen, heißt das noch lange nicht, daß sie keinen Respekt mehr verdienen.
*Frei nach G. G. Marquez. Nur der guten Ordnung halber.