Ägypten und Tunesien versuchen, den Westeuropäern ihre Strände wieder schmackhaft zu machen. Und die Autorin hat ein fünf Jahre altes Modell zu Demokratisierungsprozessen ausgegraben.
Ich bin immer noch überrascht, auf wieviel Resonanz die Umbrüche in der arabischen Welt in unserer westlichen Parallelwelt stoßen. 80 % der Amerikaner waren angeblich in den letzten Tagen des Mubarak-Regimes für seinen Abgang – ohne Rücksicht auf Sicherheits- oder israelische Interessen. Die Formel 1 wird wegen ein paar Demonstranten in Bahrain plötzlich umgelegt und auch Großkonzerne tun ihre – sicherlich völlig uneigennützige – Meinung zu gestiegenen Lebensmittelpreisen kund.
Während die nationalen Medien wieder zum Alltag übergehen, rätseln nachdenklichere Geister immer noch darüber, wohin das führen wird – und woher es eigentlich kam. Tastsächlich befasst sich schon seit Jahren ein ganze Wissenschaftszweig an der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft und Wirtschaft mit Demokratisierung im Allgemeinen und Besonderen.
Fragt man, warum nach zwanzig oder dreißig Jahren autoriärer Herrschaft gerade jetzt die Bürger auf die Straße gehen, lautet die Antwort meistens: aus Hunger. Und tatsächlich ist der Zusammenhang zwischen Demokratie und wirtschaftlicher Wohlfahrt ganz offensichtlich und nichts mobilisiert Menschen so sehr wie existenielle Not. Fast alle wirklich reichen, industrialisierten Länder sind inzwischen nach landläufigen Maßstäben Demokratien. Sehr viele autoritäre Regimes hingegen findet man in den ärmeren Regionen dieser Welt. Soviel zur Korrelation. Über die Kausalität wird noch immer gestritten, mit wechselnden Ergebnissen.
Mindestens ebenso interessant – aber nicht minder kompliziert – sind die Fragen nach den zugrundeliegenden Transitionsmechanismen. Wann geschieht Demokratisierung? Wann nicht? Und wann oszillieren Regimes – manchmal über Jahrzehnte – in einer Grauzone?
Die Politikwissenschaft versucht sich an solchen Fragen gerne mittels Fallstudien, Volkswirte hingegen schreiben Modelle. Das zugehörige Schriftwerk (“Economic Origins of Dictatorship and Democracy” von Daron Acemoglu und James Robinson) läßt sich nur bedingt als Bettlektüre empfehlen, weil der Mittelteil mehrheitlich aus Formeln, Ableitungen und mathematischer Optimierung von Gleichungssystemen besteht. Erfreulicherweise geben aber selbst die härtesten Zahlenfanatiker dem weniger mathematikaffinen Leser einführende Kapitel an die Hand, und die sind im Angesicht der Aufstände in Nordafrika eine faszinierende Lektüre. Wollte ich Ihnen das Modell erkären, ich müßte Sie auf 2013 vertrösten und mir Zeit fürs Verständnis ausbitten, aber die intuitive Logik ist sehr viel leichter zu vermitteln.
Die Autoren haben in sorgfältiger Quellenrecherche Demokratisierungsprozesse in verschiedenen Regionen untersucht und kommen zu dem Ergebnis, daß in Demokratisierungsprozessen zwei Parteien einander gegenüberstehen: Eliten halten de jure und de facto die Macht in Händen und bestimmen Entscheidungsprozesse – in der Regel so, daß möglichst wenig Umverteilung ihres Reichtums statt findet. Ärmere Schichten sind ohne Mitspracherechte, könnten sich aber qua Masse die Macht aneignen – unter bestimmten Bedingungen. Wenn sie das tun, dann wächst der Druck auf die Machthaber, sowohl weil die Wirtschaft leidet (Streiks, Proteste) also auch wenn akute Gewaltandrohung ins Spiel kommt. Machthabern bleiben dann zwei Optionen: die Proteste mit Gewalt zu unterwerfen – das ist teuer, und riskant. Oder aber der Umverteilung zuzustimmen – und dies ist besonders glaubwürdig, wenn die ärmeren Schichten durch Umbildung des politischen Systems in zukünftige Entscheidungen eingebunden werden, also durch Demokratisierung. Die Phasen, in denen die ärmeren Massen ausnahmsweise mal Macht haben, sind nämlich oft nur kurze Augenblicke der Geschichte. Würde man sich mit dem Versprechen auf zukünftige Umverteilung zufrieden geben, könnten die Eliten hinter alle ihre Zusagen zurückgehen, sobald die akute Gefahr verflogen ist – und die Massen stünden am Ende mit leeren Händen da. Dauerhafte Demokratisierung und vermehrte Mitsprache hingegen sind eine glaubwürdige Verpflichtung auch auf dauerhafte Umverteilung des Reichtums.
Für welche Strategie sich die Eliten entscheiden (Repression oder Demokratisierung), hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem maßgeblich von den Kosten der Repression und auch der nach der Demokratisierung erwarteten Umverteilung Richtung ärmere Massen. So eines der wesentlichen Ergebnisse dieses Forschungszweigs – interessant als Modell, aber im konkreten Fall wenig erhellend.
Interessanter ist jedoch, daß die Autoren auch die Frage stellen, wann Demokratisierung stattfinden kann, .d.h. wann die Massen sich erheben.
Acemoglu und Robinson gehen die Frage in gut volkswirtschaftlicher Manier aus der Nutzenperspektive an. Sich in einem autoritären Polizeistaat an Protesten zu beteiligen ist riskant für den Einzelnen – zu groß ist die Gefahr, auf unabsehbare Zeit in finsteren Kellerlöchern zu verschwinden, wenn man der Staatsmacht erst mal aufgefallen ist. Die Stärke der Massen erwächst aus ihrer Zahl – dafür aber bedarf es der Koordinierung. Und vermutlich auch eines Auslösers, der die Menschen mobilisiert. Auslöser gab es in den vergangenen Jahren immer wieder genug und Facebook gibt es auch schon länger (vom Internet gar nicht zu reden) aber die Kombination von beidem war vor allem in Ägypten exemplarisch – und dies macht die Lektüre des Buches so interessant. Die Facebook-Seite “We are all Khaled Said” (ein von der Polizei zu Tode geprügelter Blogger), die zu seinem Gedenken eingerichtet wurde, die zum wiederholten Mal gestiegenen Lebensmittelpreise – und das Vorbild Tunesien. In Tunesien wiederum war es ebenfalls die Mischung aus Facebook-Koordinierung und existentiellen Sorgen, die die Jugend auf die Straße getrieben hat – möglicherweise im Duo mit irgendeinem Zufallsfaktor.
Aus spieltheoretischer Sicht war Facebook sehr wohl ein bedeutsamer Faktor in den Abläufen, vor allem, weil er die Koordinierung von Massen ermöglicht hat, die früher schwieriger war. Dafür spricht auch, daß die Demonstranten in Ägypten sehr strategisch geplant haben, um möglichst viele Demonstranten einzusammeln und so die kritische Masse zu erreichen. Und dann auf dem Platz geblieben sind – um die kritische Masse zu halten und in der Gruppe Schutz zu gewinnen.
Stellt sich die Frage: wie wird es weiter gehen? Auch dazu hat die Wissenschaft inzwischen eine Meinung. Nicht so sehr das existierende Regime scheint von Bedeutung zu sein – es gibt formale Demokratien, die unendlich Korrupt und arm sind. Ebenso wie hervorragend funktionierende Autokratien. Neueste Studien hingegen deuten an, daß möglicherweise die Art des Übergangs entscheidend ist. Ohnehin scheint es, als würde jeder Transformationsprozess zuerst Kosten verursachen und damit in den unmittelbar folgenden Jahren zu geringerem Wohlstand führen – erst langfristig stellt sich eine positive Bilanz ein. Und dies – schaut man sich die dritte Welle von Demokratisierung an (u.a. die Staaten der ehemaligen Sowjetunion) – vor allem dann, wenn der Übergang leidlich friedlich war. Für Tunesien und Ägypten stünden die Chancen aus dieser Sicht gar nicht schlecht, tatsächlich bessere wirtschaftliche Rahmenbedinungen zu schaffen. Für Libyen hingegen verdüstert sich die Perspektive gerade sehr.