Ich muss gestehen, dass mich das Spannungsfeld zwischen Datenschutz und Post-Privacy seit meinem letzten Beitrag dazu immer noch umtreibt. Neben den üblichen Verdächtigen haben sich in der Zwischenzeit neue Zirkel formiert, deren Inhalte ein Spektrum von Datenschutzkritik bis hin zu wenig reflektierter Offenheits-Euphorie abdecken. Und in diesem Zusammenhang bin ich auch auf einen Topos aufmerksam geworden, der mit der Frage nach der Schutzwürdigkeit personenbezogener Daten streng genommen nicht unmittelbar zu tun hat, sondern mehr auf einer technisch-wertneutralen Meta-Ebene operiert. Die Rede ist von datalove, zu deutsch Datenliebe. Und deren zentraler Forderungskatalog lautet wie folgt (Übersetzung des Verfassers):
Data is essential (Daten sind essenziell)
Data must flow (Daten müssen fließen)
Data must be used (Daten müssen verwendet werden)
Data is neither good nor bad (Daten sind weder gut noch schlecht)
There is no illegal data (Es gibt keine illegalen Daten)
Data is free (Daten sind frei)
Data can not be owned (Daten können kein Eigentum sein)
No man, machine or system shall interrupt the flow of data (Kein Mensch, keine Maschine oder kein System soll das Fließen von Daten unterbrechen)
Locking data is a crime against datanity (Daten sperren oder wegschließen ist ein Verbrechen gegen die Datenheit)
Gut möglich, dass meine Stegreif-Übersetzung bestimmte Feinheiten des Originals unterschlägt, ich hoffe dennoch, den Spirit dieses Manifestes einigermaßen wiedergegeben zu haben. Und bitte, fragen Sie nicht mich, was denn bitteschön eine Datenheit sein soll. Ich habe nur versucht, den englischen Originalbegriff (den es nach meinem Kenntnisstand im offiziellen Sprachgebrauch nicht gibt) in mein geliebtes Deutsch zu übertragen. Und ein wenig komme ich mir dabei vor wie Doktor Faust, der bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments schon beim ersten Satz auf enorme Schwierigkeiten stößt beim Versuch, für den Begriff „logos” im Deutschen eine Entsprechung zu finden. So ähnlich wie Goethes Dramenheld geht es mir übrigens mit diesen ganzen Prinzipien der Datenliebe: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, dass das die Antwort auf alle netzpolitischen Fragen sein kann.
Zumindest legen die Urheber der Daten-Liebeserklärung Wert auf die Feststellung, dass es ihnen nicht um die Einführung von Daten-Kommunismus oder die Abschaffung der Privatsphäre zu tun sei. Es gehe dabei auch nicht um Informationen oder Kontexte – sondern nur um den ungestörten Fluss der Daten, die in das Internet eingespeist werden: Sobald Daten jeglicher Art ins Internet eingespeist sind, müssen sie auch entsprechend gleichbehandelt werden. Daten, die als privat betrachtet werden, sollten erst gar nicht im Internet landen. Somit müssten Krankenakten oder andere persönliche Datensätze keineswegs ins Internet gestellt werden für mehr gesamtgesellschaftliche Transparenz. Diesen Schuh der Post-Privatisten zieht sich Stefan Urbacher, einer der Mitverfasser des Datalove-Manifestes, nicht an. Er und seine Mitstreiter bei der Aktivistenvereinigung Telecomix plädieren im Zweifelsfall eher für „Verschlüsseln, wo es nur geht”.
Aber auch mit dieser Einschränkung bleibt das ganze Thema revolutionär genug, wenn zum Zwecke der freien Datenliebe mal eben Urheberrechte, geistiges Eigentum und alle anderen realen und denkbaren Obstruktionen eines freien Datenverkehrs als unbedingt zu überwindende Hindernisse deklariert werden. Natürlich ist man dabei nicht so unsensibel und taktisch unklug, explizite Freifahrtscheine auch für kinderpornographische und sonstwie strafrechtlich relevante Inhalte im Netz zu fordern. Aber letztlich läuft es eben doch darauf hinaus, das alles billigend in Kauf zu nehmen, wenn das Belieben des einzelnen Anwenders alleinige Instanz sein soll. Und spätestens da kommen wir an den Punkt, an dem ich meine Schwierigkeiten mit diesem Konzept der Datenliebe habe. Demnach gäbe es zur Auswahl nur alles oder nichts: Entweder wir lassen alle Arten von Daten ungefiltert wandern wohin sie wollen – oder aber wir schränken den Transport bestimmter Arten von Daten ein, und das führt dann jedenfalls nach Ansicht der Datenliebe-Propagandisten „unausweichlich dazu, dass der Fluss aller Daten gehemmt wird”. Deswegen müsse man allen Politikern entgegentreten, die mit dem Hinweis auf Kinderpornographie oder „Hate Speech”-Inhalten versuchten, andere in ihren kommunikativen Möglichkeiten zu beschränken.
Nun neige ich gewiss nicht dazu, Politikern bei ihren Versuchen der Netzregulierung hochfliegende Motive zu glauben, wenn ich auch niedrige finde. Natürlich gibt es keine Gewähr, dass es dauerhaft beim Sperren oder Löschen von Kinderpornographie bliebe, wenn das Instrumentarium für Netzeingriffe erst mal verfügbar und erprobt ist. Auch halte ich Netzsperren, digitale Radiergummis oder digitale Rechte-Managementsysteme für ein aussichtsloses Rumdoktern an Symptomen. Ich sage aber auch ganz offen: Das Recht, ungehindert kinderpornographische Inhalte, Nazi-Propaganda und Islamisten-Terroraufrufe (um nur mal die gängigsten Horror-Klischees zu bemühen) übers Internet verbreiten zu dürfen, ist nicht unbedingt ein Anliegen, für das ich auf die Straße gehen würde. Mit dem Ratschlag, ist halt so, lernt damit zu leben und es zu lieben, dass im Netz auch jede Menge Dreck mitschwimmt, macht man es sich ein bisschen zu einfach. In diesem Kontext kann man If data of any kind is exposed to the internet, it has to be treated equally from then on. If some data is meant to be private, it should not reach the internet in the first place auch so verstehen: Natürlich haben kleine Kinder in Brunnen nichts verloren. Aber wenn sie reingefallen sind, dann sind sie nun mal Teil des Brunnens. Und die erhabenen Grundsätze der Brunnenheit verbieten uns Eingriffe in die Integrität von Brunnenanlagen. Lassen wir sie also drin.
Liefe also die konsequente Umsetzung dieser Datenliebe-Postulate letzten Endes nicht darauf hinaus, das Internet mit seinem Datenbestand zu einer Art heiligen Kuh zu erklären und deren Integrität höher zu achten als diverse menschliche und allzumenschliche Belange sowie rechtsstaatliche Prinzipien? Oder liegt der Knackpunkt lediglich in meinem begrenzten Verständnis dieses sublimen Konzeptes der Datenliebe und wie es für Friede auf Erden sorgen könnte, wenn alle nur dran glauben und nicht in den freien Fluss der Datenströme eingreifen? Zumindest in einem Punkt gibt sich Stefan Urbach gegen Ende seines Versuchs, Datenliebe von Post-Privacy abzugrenzen, keinen großen Illusionen hin: “Vermutlich wirft dieser Text wieder mehr Fragen auf als er Antworten gibt.” Da möchte man nicht widersprechen – und womöglich wird auch mein Beitrag dazu dieses Schicksal teilen.