Bei aller Effizienz der Märkte: manchmal sind eben doch nicht alle Produktionskosten im Preis einkalkuliert – aber am Ende muß immer jemand bezahlen. Ein Gedankenexperiment zum Atomstrom.
Zwischen den Studienabschluß als sogenanntes High Potential und den Job als Junior Associate oder Analyst bei einer großen Unternehmensberatungsfirma hat die Personalabteilung die Case Study gesetzt. Ganze Fachbücher gibt es für die werdenden Berater dazu, wie man die Case Study anzugehen hat, wo die Fallstricke liegen und wie man es richtig macht. Grundidee ist, daß man realwirtschaftliche Fragen mit vernünftigen Annahmen ohne große Ahnung von der Thematik irgendwie beantwortet, über den Daumen gepeilt.
Rückblickend bin ich immer wieder froh, beruflich andere Wege eingeschlagen zu haben, aber die Lust am Fabulieren und Mutmaßen ist mir geblieben, und wer weiß: vielleicht ist die Methode ja sogar ganz aufschlußreich. Vielleicht sogar qualifiziere ich mich ja doch noch für den Beraterjob und bekomme in Zukunft auch zu Weihnachten Karten mit Osterhasen drauf und der Ansage: „Wir sind immer einen Schritt voraus”, wie die erfolgreichen Mitstudenten von damals, die noch heute von Personalern derart umworben werden. Das wäre schön. Für mein Ego.
Ich stelle mir also vor, ich säße ich einem Bewerbungsgespräch, die Beratungsfirma hat vielleicht in ihrer komplexen Matrixstruktur, die auch mit Organigrammen nicht durchschaubarer wird, eine große Abteilung für „Energy & Environment” (nicht lachen, das alliteriert sich schön, da darf man es auch in eine Abteilung zusammenfassen). Fukushima ist von der Titelseite schon wieder runter, aber das Thema immer noch präsent genug, und so fragt man mich: „Frau Infinitesimalia, wie hoch, bitte schön, schätzen Sie, wären die Stromkosten für Atomstrom, wenn die großen Energiezulieferer die Kosten von Atomkatastrophen selbst tragen müßten, und nicht auf die Steuerzahler abwälzen könnten?”
Ich würde den schicken Berater erst mal rehäugig anschauen, einen Moment nachdenken und mich dann zuerst um die Zahlen drücken, indem ich sage, was mir sonst dazu einfällt. Negative Externalitäten, dazu läßt sich einiges sagen. Die Volkswirtschaft glaubt zwar prinzipiell an die Effizienz der Märkte, aber auch wiederum nicht immer: manchmal nämlich werden Produktionskosten nicht vom Produzenten direkt getragen und daher eingepreist gegenüber den Konsumenten, sondern auf krummen Wegen auf die Allgemeinheit (lies: Steuerzahler) umgewälzt. Ein typisches Beispiel hierfür sind allerlei Arten von Umweltkosten. Der Gesetzgeber kann einiges dazu tun: seit zum Beispiel Bergbauunternehmen Rückstellungen für die Renaturierung der angerichteten Schäden an Wald und Flur bilden müssen, hängt an diesen Schäden ein Preisschild dran, das wiederum in den Endpreis eingeht, der für Kohle und andere Bergbauprodukte zu zahlen ist. Kosten internalisiert.
Für Bankenpleiten und Atomkatastrophen hingegen gilt das noch nicht, jedenfalls nicht so richtig. Zumal letzere so schwer zu quantifizieren sind, daß selbst die Versicherungsindustrie davon lieber Abstand nimmt und Atomkatastrophen nicht versichert. Das könnte ich natürlich dem Berater sagen, daß ich wohl kaum schätzen kann, was eine ganze Industrie ratlos macht, aber diese Antwort wäre strategisch unklug.
Zahlen. Zahlen sind schwer verfügbar, aber irgendwo muß man ja anfangen. Die Kosten von Tchernobyl stehen bis heute nicht fest. 12 Milliarden USD zwischen 1986 und 1989 sind nicht gut, zu kurzfristig. 235 Milliarden USD über 30 Jahre – all inclusive, inkl. Kosten von Rezession etc. – scheinen mir schon realistischer. Das ist weit weg von den 2.500 bis 5.500 Milliarden Euro, die eine Schätzung von 1992 für den Fall einer Atomkatastrophe in Deutschland veranschlagt hat, aber wir hier im Herzen Europas haben ja auch mehr zu verlieren, dichter besiedelt, höhere Produktivität und so. Das ist immerhin schon mal eine Bandbreite der möglichen Kosten. Rein finanziell, natürlich.
Als nächstes wenden wir uns dem Strompreis zu. Immer mal wieder beharken sich die Verfechter von Atom- und Ökostrom über Subventionen und Etikettenschwindel. Städtische Behörden brüsten sich mit dem Wechsel zu grünen Energien, in Wirklichkeit jedoch beziehen sie weiter Atomstrom aus deutschen Kernkraftwerken, allerdings solchen, für den das Energieunternehmen Ökozertifikate von grünen Anbietern (zum Beispiel aus dem schönen Skandinavien) erworben hat, während die Skandinavier ein bißchen von ihrem Wasserkraftstrom zu Atomstrom umetikettieren. Schöne neue Welt der weltweit vernetzten Märkte, auf denen ohnehin nur noch elektronisch über Computer gehandelt wird. Das war ja aber nicht die Aufgabenstellung, und mein Hintergrundwissen gewinnt mir in der Fallstudie keinen Blumentopf, denn hier zählen Zahlen, Zahlen, Zahlen.
Um die komplizierten Preisstrukturen industrieller Großabnehmer möchte ich mich lieber drücken und wende mich den Privathaushalten zu. Dort machen allein die Steuern bereits 45 % des Endpreises aus, hinzu kommen Netzabgaben und administrative Kosten (Gebührenableser etc.), die auf den Grundpreis der an der Leipziger Strombörse im Handel entsteht, aufgeschlagen werden.
Die Informationen sind reichlich verwirrend, ich stehe unter Zeitdruck und habe nicht die Nerven, das Kostendurcheinander zu sortieren, aber mein stylisches I-Phone (das ich als Beraterin in spe natürlich vorsorglich schon besitze) hilft mir weiter und spuckt eine Seite mit veralteten aber immerhin gut vergleichbaren Preisen aus, die nehme ich. Demzufolge kostet konventionelle Energie in der Erzeugung unter 5 Cent pro kWh, Windkraft kostete damals 5-8 Cent pro kWh, und Sonnenergie bis zu 20 Cent. Da die Atomindustrie ihre günstigen Preise so oft lobt und ich dem zukünftigen Brötchengeber gerne gefallen möchte, nehme ich folgendes an:
– Atomstrom kostet nur 2 Cent pro kWh in der Erzeugung,
– regenerative Energie kostet im Durchschnitt 13 Cent pro kWh (2/3 Windkraft à 10 Cent plus1/3 Sonnenenergie à 20 Cent, das entspricht etwa der installierten Kapazität in 2008),
– Netzentgelte fallen in Höhe von 6 Cent pro kWh an, und zwar für alle Stromarten, schließlich reden alle über den Netzausbau, da kann es nicht schaden, der Windkraft diese Kosten draufzuschlagen.
In Deutschland stammen etwa 23 % der Gesamtstromerzeugung aus Kernenergie, in 2010 entsprach das ungefähr 140,6 Milliard kWh, sagt die Industrie selbst. Jetzt nähere ich mich einem greifbaren Ergebnis:
Ohne externe Kosten zahlt ein durchschnittlicher deutscher Haushalt etwa 60 Euro im Monat für ca. 300 kWh Stromverbrauch, ausgehend von einem Preis von 20 Cent pro kWh (inklusive aller Nebenkosten). Davon, habe ich angenommen, entfallen aber nur 2 Cent auf die eigentliche Stromerzeugung (denn Atom ist ja ganz billig), 15-18 Cent sind Nebenkosten und Steuern.
Wollte man nun die Atomkatastrophenkosten internalisieren, muß man die Schadenskosten von 235 Milliarden USD (oder 5.000 Milliarden Euro?) aufteilen – aber wie oft passiert so ein Unfall eigentlich? Schwer zu sagen, die Japaner würden sagen: alle 50 Jahre, dort wurde das erste Kraftwerk 1963 eröffnet. Die Atomindustrie sieht das sicherlich anders, einmal in 10.000 Jahren wird gerne aus einer alten Studie zitiert. Bei weltweit 443 Kraftwerken macht das allerdings einmal alle 22,5 Jahre, was – Überrschung! – zur Realität passt, zählt man Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima. Jetzt wird es kompliziert: in Deutschland gibt es 17 AKWs, wir müßten also alle 580 Jahre mit einem Unfall rechnen. Angesichts der veralteten Rechnung, die außerdem vermutlich ohne das allgegenwärtige menschliche Versagen auskommt, reduziere ich das auf 150 Jahre. 235 Milliarden USD durch 150 Jahre, macht 1,6 Milliarden USD im Jahr, oder 1 Milliarde Euro. Eine Milliarde Euro umgelegt auf 140,6 Milliarden kWh – macht einen Aufpreis von 0,007 Euro, also weniger als einen Cent. Jetzt freut sich der Berater, denn ich kann ganz offensichtlich rechnen und auch noch kundenorientiert denken.Vielleicht werde ich jetzt eingestellt.
Heimlich für mich, auf der Rückfahrt im Zug (ökologisch korrekt), rechne ich zur aus Neugier noch mal mit Schäden von 4.000 Milliarden Euro (willkürlich, zwischen den damals geschätzten 2.500 und 5.500 Milliarden Euro, ohne Inflation). Das wären dann nämlich 26,5 Milliarden Euro Rückstellungen pro Jahr, umgelegt auf 140,6 Milliarden kWh macht fast 19 Cent Aufpreis auf die Kilowattstunde Atomstrom.
Würde ich das laut sagen, man würde mir entgegenhalten: die Subventionen für Ökoenergie seien nicht eingepreist. Die Schäden von Windkraftanlagen ebensowenig (Spiegelleser im dortigen Forum ängstigen sich, daß uns Windräder bei Erdbeben auf den Kopf fallen). Die Klimaschäden für andere konventionelle Energieträger zur Überbrückung, die ökologischen Kosten des Netzausbaus, der Schaden von Offshore-Parks an der Nordsee, alles nicht berücksichtigt, dann wäre auch Ökostrom wieder teurer. Sicherlich. Andererseits vernachlässigt die obige Rechnung die Kosten für Endlagerung und Rückbau von AKWs (letzteres dürfte in Deutschland mit 10 Mrd. zu Buche schlagen), und setzt die Produktionskosten für Strom aus regenerativen Quellen sehr hoch an (mein Lieblingsexperte sagt: Erzeugerkosten für Windkraft onshore 3-7 Cent pro kWh). Ich aber, so würde ich entgegnen, verkünde hier ja auch gar keine Wahrheiten, sondern habe lediglich ein bißchen laut nachgedacht.