Man kann innerhalb der Sepulchralkultur mit Verstorbenen und der Erinnerung so und so umgehen; was in Sachen irdischer Endlichkeit, im Wortsinn genommen, recht hart ist, ist die Staubsymbolik des Menschen, in der reichlich christliche Bedeutungshoheit mitschwingt. Nicht jede Religion jedoch neigt dazu, die Vergänglichkeit so herauszustellen; das Judentum etwa, das seine ganze Vorstellung der Beziehung zwischen Schöpfer und Mensch eher gleichberechtigt auslegt, kennt da ganz andere Begriffe: Statt verstorben heisst es seligen Andenkens, und über die Toten stellt man nicht die Vergänglichkeit in den Vordergrund, sondern die Bewahrung: Sie seien eingebunden in das Buch des Lebens.
Man kann diese sehr unterschiedlichen Einstellungen zum Tod und zum Bewahren aus den sehr unterschiedlichen Erwartungshaltung zum Jenseits erklären; das Judentum kennt keine ausdrückliche Hölle und kein Fegefeuer, eher eine Art Schattenreich, gleichzeitig aber auch eine klare Verpflichtung für Freunde und Angehörige, sich der Toten eigenverantwortlich zu erinnern, während Dinge wie Totengebete und Seelenmessen gerade im Hinblick auf die Qualen im Purgatorium einträgliche Wirtschaftszweige der Kirchen waren. In Zeiten jedoch, da die Überzeugung einer Glaubensgemeinschaft zumindest vor den Menschen nicht mehr allein selig machend ist, und in einer Epoche, die das Erinnern, oder sagen wir es in der Sprache des Rechners, das Abspeichern, Aufrufen und Verarbeiten zur wichtigen Kulturtechnik entwickelt hat, stellt sich auch die Frage des Nachlebens neu.
Man kann vieles, was einen Menschen ausgemacht hat, tatsächlich selbst in ein Buch des Lebens einbinden. Was sich der Freigeist Baudelaire am Ende seines Gedichts über die Vergänglichkeit „Ein Stück Aas” für seine Geliebte wünschte – dass ich unsterblich in mir Form und Wesen trage, der Lieben, die vegangen sind – kann heute durch Speichern auf einem Server auch nach aussen getragen werden. Der Ausspruch vom Staub, der zum Fluch wird, wenn das Wissen um alte Photographien und Gemälde verschwunden, vergessen und verloren ist, muss im Internet nicht zwingend gelten. Gerne wird bemängelt, das Internet kenne kein Vergessen und würde alles in sich aufnehmen – mag sein, aber in Sachen Andenken, Erinnern und Archivieren ist es ein wahres Geschenk.
Denn auch, wenn man sich das als Journalist ungern eingesteht: Das Schaffen jenseits des Internets ist nun wirklich eines, das schnell verschwindet. Heute mehr denn früher, denn das, was früher nicht selten war – Zeitungsartikel ausschneiden, Radiosendungen mitschneiden, später auch Fernsehen aufnehmen – verliert in diesen Tagen der schnellen Erregung und des Grundrauschens der Informationsverbreitung jede Bedeutung. Was wir auf herkömmlichen Wegen verbreiten, verschwindet auf eben diesen Wegen, die tiefsinnigen Überlegungen mit den dummen Glossen, das präzise Analysieren und das charmante Plaudern, die BILD-Zeitung vielleicht schnell im Müllkorb an der Ecke, und die FAZ vielleicht in der sauberen Papiertonne, oder im Winter im Kachelofen – genauso schnell, wie Medien entstehen, machen sie anderen Medien auch wieder Platz. Im Hirn der Leser genauso wie in ihrer physischen Existenz. Vergessen zu vergessen, die alltägliche und sehr banale Damnatio Memoriae, auf die mit neuen, banalen Flüchen der Reizüberflutung geantwortet wird, die dann zu oft das Feine und Gelungene überdecken.
Im Internet dagegen gibt es etwas, das man als long tail bezeichnet, eine lange Kette an Informationen und Daten, die vielleicht nicht so gross wie Amazon oder Spiegel Online sind, aber durch ihre Präsenz dauerhaft Bedeutung haben. Jeder Blogger kennt das, wenn er sich die Entwicklung der Leserzahlen alter Beiträge anschaut: Es gibt einen kleinen Strom an von Suchenden, die im Laufe der Jahre ganz erstaunliche Ausmasse annehmen können; hier etwa kommen bei einem Beitrag lange, nachdem er von der Hauptseite verschwunden ist, immer moch 1000, 2000 Leser im Jahr dazu; sollte das Thema eine gewisse Bedeutung haben, sind es auch mehr, die sich informieren und dessen erinnern, was hier geschrieben wurde. Vielleicht gehen sie wieder, weil sie nicht fanden, was sie suchten. Das jedoch gilt kaum, wenn der Verfasser zu unterhalten und fesseln wusste, dann merkt man, wie sich mancher zufällig vorbei Kommender durch das Archiv wühlt und wissen will, was dieser Mensch war, der da schrieb. So gesehen ist es jedem von uns selbst überlassen, der Androhung des Staubes ein klein wenig zu entgehen, oder dafür zu sorgen, dass andere nicht durch mehr sinnlose Informationsezerstörung verloren gehen, selbst wenn sie nicht mehr schreiben können.
Für Michael Althen, den jüngst verstorbenen und weithin gerühmten Filmkritiker der FAZ, wurde jetzt von Freunden ein entsprechendes Archiv eingerichtet, das allen, den tumben Suchmaschinen und den interessierten Lesern, denen, die ihn schätzten und jenen, die ihn erst noch mit Freude entdecken werden, zugänglich macht. Einiges ist schon vorhanden, vieles muss noch gesammelt und als digitale Seite in dieses Buch eines Kritikerlebens eingeklebt werden. Ein kleiner Leiftaden durch die Welt der Illusionen und Täuschungen auf Zelluloid, ein wertendes Kompendium mit Lob und Urteil, nicht immer für jeden schmeichelhaft, aber über Filme darf und muss man eben nicht nur Gutes sagen. Ein Stilschule für kommende Schreiber sicher auch, vor allem aber eine bleibende Erinnerung in einem Netz, das selbst besser wird, je mehr Gutes hineingebunden wird.