“Je planmäßiger der Mensch vorgeht, um so wirkungsvoller trifft ihn der Zufall.” So Friedrich Dürrenmatt, und recht hat er. Oder auch nicht.
Sommerzeit – Urlaubszeit. In Süddeutschland stehen die Pfingstferien vor der Tür, danach beginnen die Sommerferien in den nördlichen Bundesländern, und auch Blogger brauchen hin und wieder Urlaub. Das Internet hilft weiter: Pauschalreisen, Singlereisen, Last-Minute-Angebote, unendliche Vielfalt.
Die Website des Veranstalters meiner Wahl – Anbieter von Ferienhäusern mit Wohngemeinschaftscharakter – sagt mir sogar, wieviele Plätze noch frei sind, sowohl im Haus als auch bei der Anreise. Ich schaue mir Bilder an, recherchiere in Bewertungsportalen, lese Kritiken und fühle mich wohlinformiert. Die Buchungsbestätigung kommt per Mail, ebenso die Rechnung, Reiseinformationen und irgendwann das Flugticket. Bei Météo-France erfahre ich alles über das voraussichtlich trübselige Wetter vor Ort, das sich dann doch als ganz erfreulich herausstellt – Tücken der Meteorologie, aber das hatten wir ja schon. Online informiere ich mich über die Zugverbindung zum Flughafen, kaufe das Bahnticket, recherchiere das richtige Terminal; eine Information allerdings ist nicht online zu haben: was für Mitreisende mich erwarten werden.
Natürlich kann man sich im Vorfeld darüber Gedanken machen: der Urlaub richtet sich an jüngere Generationen, daher sind die potentiellen Miturlauber voraussichtlich zwischen 18 und 38, vermutlich in etwa normalverteilt. Bei zehn Betten im Haus ist es ziemlich wahrscheinlich, daß ein oder zwei Personen in etwa mein Alter haben, und davon ungefähr 50 % weiblich bzw. männlich sind. Dort allerdings endet meine Weisheit: zuviele Variablen sind mir unbekannt: familiärer Hintergrund, sportliche Vorlieben, Bildungsniveau, finanzielle Verhältnisse, Lebensverhältnisse – alles bestimmt die Wahl des Urlaubs und nichts davon kann ich im Vorfeld vernünftig einschätzen, sondern nur auf ein gnädiges Schicksal und nette Reisebekanntschaften hoffen.
Andererseits hat fast jeder schon mal im Urlaub Freunde, Bekannte, oder Bekannte von Bekannten getroffen und dann den Zufall bejubelt, weil solche Treffen gemeinhin als sehr unwahrscheinlich gelten. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine längere Reise in Nordafrika, wo meine Reisepartnerin Freunde von mir aus ihrer Unizeit kannte. Ziemlich unwahrscheinlich auf den ersten Blick. Auf den zweiten hingegen: wir waren im selben Alter, hatten alle studiert und kamen aus im weitesten Sinne ähnlichen Elternhäusern. Solchen, wo viele Kinder irgendwas mit Wirtschaft studieren, gerne an ähnlichen Universitäten, wo sich leicht größere Netzwerke bilden. Sie und mich verband das Interesse an Land und Sprache, und bei solchen Gemeinsamkeiten war es gar nicht mehr so unwahrscheinlich, daß wir uns trafen. Die Verbindung über gemeinsame Freunde oder Bekannte ist dann kein großer Schritt mehr, wenn man auch noch dasselbe Fach studiert hat.
Ähnliches gilt für die typischen Bekanntentreffen im Urlaub: gemeinsame Vorlieben für bestimmte Regionen, bestimmte Orte, bestimmte Hotels befördern solche Zufälle ungemein, zumal ja Familien mit schulpflichtigen Kindern auch auf bestimmte Zeiten festgelegt sind. Geht man dann davon aus, daß man im Durchschnitt eine zweiwöchige Reise pro Jahr unternimmt, ist es gar nicht mehr so unwahrscheinlich, ein oder zwei Mal im Laufe seines Lebens unerwartet ein vertrautes Gesicht im Urlaub zu sehen. Die vielen Male hingegen, die man niemanden trifft, nimmt man subjektiv garn nicht wahr.
Noch deutlicher wird das Bild, wenn man über zufällige Treffen in der Stadt nachdenkt. In einer Kleinstadt laufen sich alle ohnehin dauernd über den Weg, in einer Großstadt hingegen fällt das bereits unter Zufall. Ist es aber eigentlich nicht. Wer in einer Großstadt wie Frankfurt lebt, hat unter den 500.000 Einwohnern vielleicht 200 Bekannte. Die Wahrscheinlichkeit, am Samstagmorgen auf der Zeil (oder der Goethestrasse) bummeln zu gehen, liegt vielleicht bei 20 % für jeden – manche sind unterwegs, Investmentbanker müssen trotzdem arbeiten, und andere bleiben gleich im Bett und lesen Zeitung. Einige jedoch gehen ganz unweigerlich bummeln, weil es eine typische Samstagsbeschäftigung ist. Folglich befinden sich von den 200 Bekannten vielleicht 40 gleichzeitig in der Innenstadt auf dem 550 m langen Abschnitt zwischen Konstabler- und Hauptwache. Selbst angesichts der verfügbaren Ladenflächen, ist das wenig Raum (und noch weniger auf der überschaubaren Goethestrasse). Offene Augen und gleiche Vorlieben helfen auch hier – und schon ist das Zusammentreffen gewissermaßen vorprogrammiert. Sogar in der Großstadt.
Statistische Wahrscheinlichkeiten sind aber dennoch ein theoretisches Konstrukt und manchmal kommt alles ganz anders. Mein Feriendomizil beherbergt in dieser Woche zum Beispiel drei junge Männer Anfang zwanzig, fern jeder Normalverteilung: die drei haben als Freunde gemeinsam gebucht und in der Vorsaison ist nicht alles ausgebucht. Reine Glückssache, daß ich meine Woche in etwas reiferer und vorwiegend weiblicher Gesellschaft verbringen durfte – oder Zufall. Oder Glück.
Mit Zufall, Statistik und Gemeinsamkeiten kann man auch ganze Geschäftskonzepte stricken: Single-Urlaube versprechen die große Liebe oder zumindest nette, gleichgesinnte Bekanntschaften. Gleichgesinnt ist dabei das Zauberwort: wer ähnliche Urlaubsaktivitäten mag, hat vielleicht auch Anderes gemeinsam. Oder man weitet das Konzept der Gemeinsamkeiten noch mehr aus, vergibt Punkte dafür und bringt potentiell passende Partner miteinander in Kontakt. Neben den offiziellen Statistiken der Betreiber gibt es auch Seiten, wo die Nutzer ihre Erfolgsquote kundtun können. Gutes Date, schlechtes Date, aufgeteilt nach weiblichen und männlichen Nutzern. Die Aussagekraft solcher Statistiken ist allerdings begrenzt (wie überhaupt bei Nutzerbewertungen im Internet). Die Bewertungen sind nämlich prinzipiell mit einem „selection bias” behaftet, weil manche Typen oder Gruppen von Nutzern wahrscheinlicher teilnehmen oder unterschiedlich bewerten. Nörgler mögen ihrem Frust lieber Luft verschaffen als zufriedene Kunden (=Übergewicht negativer Bewertungen), maulfaule Personen hingegen äußern sich selten und haben auch weniger erfolgreiche Dates (=Unterbleiben negativer Bewertungen). Folglich ist die Stichprobe nicht mehr zufällig und damit statistisch nicht mehr repräsentativ.
Besondere Bedeutung erhält die Urlaubsbekanntschaft auf Flügen – wo man unter Umständen neben der aktuellen Miss Universe sitzen kann, vielleicht aber auch neben einem schnarchenden, ungewaschenen Typ mit Vorliebe für alkoholische Getränke. Geschäftskonzepte, die einem den letztgenannten Albtraum ersparen, gibt es durchaus: Plattformen, wo man den Sitznachbar auf Flügen nach bestimmten Kriterien aussuchen kann – soweit sich genug Reisende für den jeweiligen Flug registriert haben. Meines Wissens jedoch haben sich diese Dienste noch nicht wirklich durchsetzen können, mangels Masse (zuviele Flüge, zuviele Geschäftsreisende, zu kleine Reichweite der einzelnen Portale). Dabei wäre das eine wirklich, wirklich dankbare Einrichtung. Auch im Flugzeug sollen ja bereits große Liebesgeschichten ihren Anfang genommen haben.
Bleibt am Ende die Erkenntnis, daß Gemeinsamkeiten dem vermeintlichen Zufall oft auf die Sprünge helfen, wenn es darum geht, Menschen zu treffen. Bei einem ausgeprägt eigenwilligen Urlaub ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dort auf Gleichgesinnte zu treffen – kein Zufall also, daß ich Bekanntschaften aus jenem Nordafrika-Aufenthalt bis heute pflege. Nicht alles kann man planen, da kann man Dürrenmatt nur zustimmen. Aber nachhelfen kann man manchmal durchaus.