E-Books verkaufen sich in Deutschland schleppend, denn sie haben ihre Wandlung zu einem sozialen Ereignis noch lange nicht vollzogen. Das restriktive Rechtemanagement der Verlage legt die elektronischen Bücher in “digitale Handschellen”; sie verfehlen so die Erwartungen der Leserschaft.
Ein Nerd sollte über die schleppende Entwicklung des digitalen Buches bekümmert sein. Richard Stallman ist es nicht. Im Gegenteil: Stallman, Gründer der “Free Software Foundation”, ruft zum Boykott von E-Books auf: “bis sie unsere Freiheit respektieren.” Der Aktivist für Freie Software sprach sich am vergangenen Mittwoch in Berlin für eine umfassende Reform des Urheberrechtes aus; dabei kritisierte er unter anderem scharf, wie Verlage und vertreibende Unternehmen den Charakter des Buches mit seiner Digitaliesierung grundlegend verändert hätten. Anstatt die neuen Technologien als Chancen zu nutzen, belegten diese ihre Nutzer mit immer neuen Restriktionen. Beispielsweise könnten E-Books im Gegensatz zu gedruckten Exemplaren nicht anonym erworben werden, zudem schränkten Maßnamen des “Digitalen Rechtemanagements” (DRM) die Nutzung des Buches erheblich ein: das Kopieren von Text sei durch DRM sogar weiter eingeschränkt als das Urheberrecht es für Bücher vorsehe. Vor allem aber machte das E-Book einen weiten Bogen um die Sharing-Kultur, eine der großen Triebfedern der Internetznutzung, und sondere den Leser aus der Gemeinschaft der Buchliebhaber als Konsumenten aus. Der E-Book-Bücherwurm hat nur noch sein Lesegerät, seinen Onlineshop und sich. Die soziale Geste des Bücher Verschenkens und des Verleihens fällt weg.
Die Leserschaft, so konstatiert Stallman, kümmert sich nicht um die “digitalen Handschellen” des E-Book-Publishings, an denen seine Kritik ansetzt. Rechtefragen bewegen zwar manche Autoren, den durchschnittlichen Leser bewegen sie nicht. “Convenience Reasons”, also Ablehnung des E-Books aus Gründen der Bequemlichkeit und des praktischen Nutzens, stünden der Erfolgsgeschichte des digitalen Buches im Weg, glaubt Stallmann. In den USA kommen laut Amazon auf 100 verkaufte Papierbücher 105 elektronische Bücher, in Deutschland jedoch ist der Marktanteil der E-Books trotz hoher Wachstumsraten verschwindend gering, nicht zuletzt aufgrund der Buchpreisbindung. Dass Bücher in der digitalen Version, obwohl sie kostengünstiger als ihre gedruckten Schwestern produziert und vertrieben werden können, nicht für einen niedrigeren Preis angeboten werden, greift ineinander mit dem Problem der empfundenen Wertigkeit von E-Books. Dass Bücher für den E-Reader mit der Einbindung von Videos und O-Tönen zu einem Crossmedia-Produkt werden, hilft da wenig (FAS, 19.06.2011: Mit Frauen, mit Whisky, mit sehr großen Fischen. Das Beste am E-Book sind die O-Töne. Sonst sollten die deutschen Verlage noch etwas üben. Ein Selbstversuch mit Hemingway-digitalplus)
Denn betrachtet man das gebundene Schriftwerk als Produkt, steht am Ende die Feststellung, dass das Buch viel mehr ist, als der Text, den ein Autor zusammengetragen hat. Bücher entfalten ihre volle Wirkung als Konsumgut nicht ausschließlich über die intellektuelle Verarbeitung durch ihre Leser. Außer ihrem Unterhaltungswert, der privaten Liebe zur Belletristik und der persönlichen Aneignung von Wissen, ist der Besitz oder die Weitergabe von Büchern auch immer eine Demonstration nach außen. In der digitalen Welt dienen Profilbilder oder gestochen formulierte Status-Updates dem “Impression Management”, eine geschwollene Bücherwand bildet eines der Gegenstücke in der leibhaftigen Welt. Regale, gefüllt mit Literatur, Sachbüchern, Enzyklopädien sind nicht nur aus dem Konzept der Innenarchitektur kaum wegzudenken, sie werden auch als Teil der Selbstdarstellung im Kontext des Wohnens genutzt. Wo der saturierte Mittelstand noch nicht unter die Kunstsammler gegangen ist, genügt ein teures Designerregal mit eloquenter Befüllung. Der Traum von der Privatbibliothek reiht sich ein in andere Statussymbole, doch die Büchersammlung wächst stetig und speist sich aus weitaus mehr Quellen als dem eigenen Portemonnaie.
Stehen Sie gerne vor den Bücherschränken eines anderen Menschen und puzzeln über seine Auswahl ein paar Gedanken mehr in das Bild von ihm? Überlegen Sie es sich vielleicht noch einmal anders, die Nacht bei Ihrer neuen Bekanntschaft zu verbringen, wenn deren Wohnung nackt ohne ein einziges Buch da steht? Liegt für solche Zwecke in Zukunft ein Kindle oder das iPad auf einem Sekretär, an dem die geneigten Gäste in der virtuellen Bücherei stöbern können?
Konsum wird im Netz vor allem durch die Einbettung in Communities vorangetrieben, beispielhaft dafür stehen Spiele, Mode und Musik, die über gemeinsame Erlebnisse und Austausch neue Wertigkeit erfahren. Das E-Book aber hat seine Wandlung zu einem sozialen Ereignis noch lange nicht ausgeschöpft. Netzbürger sind Leseratten, diesem Eindruck kann man sich beim Stöbern in sozialen Netzwerken nicht verwehren. Nicht nur Literaturblogs und Bücher-Communities stärken diesen Eindruck, die ergänzende Selbstdarstellung über Lesegewohnheiten wird auch in Status-Updates gepflegt, Blogserien über Bücher übertragen das Lesefieber kreuz und quer durch das Netz. In der Community der Wochenzeitung „der Freitag“ finden sich Leserinnen und Leser regelmäßig mit der Redaktion zusammen und schreiben abwechselnd über die Lektüre eines dicken Wälzers. Ganz anders könnte die digitale Dokumentation eines virtuellen Lesekreises aussehen, käme das E-Book in Gestalt eines Musiktitels bei der Plattform Soundcloud: dort können User an jeder Stelle einer Audiodatei Kommentare hinterlassen und ein Stück somit Ton für Ton besprechen.
Die einsamen E-Books müssen für eine Vernetzung ihrer Liebhaber gerüstet werden. Dazu zählt nicht nur die “shared experience”, sondern eben auch, dass man die Bücher wieder verkaufen kann, und sehr viel einfacher verleihen und verschenken können sollte. Noch sind die “digitalen Handschellen” für virtuelle Bücher jedoch so restriktiv, dass man sich einander gegenseitig seine vollständigen Sammlungen auf dem Lesegerät ausleihen müsste, um frei mit den Titeln umgehen zu können. Und das Borgen einer gesamten Bibliothek, so Richard Stallman, empfinde auch der großzügige Bücherfreund mitunter als etwas viel verlangt. Die privaten Bücherschränke, vor denen unsere Freunde verzückt verweilen, werden sicher auch im Netz irgendwann ihr Zuhause finden. Ihre Regale können Sie dann – wie einst die Ikea-Gerüste – vor Möbel Horzon in der Berliner Torstraße stapeln und entsorgen, um ein anderes elementares Möbelstück zurück mit ins Heim zu nehmen. “Das weiße Buch” von Rafael Horzon war dann das Orakel für die weiße Wand in ihrem Wohnzimmer, vor der er eine neue Geschäftsidee ersinnt. Die Diskussionen über die Aktualität des Urherberrechtes dürfte munter weitergehen, wenn in meterhohen digitalen Bilderrahmen die Art Basel direkt in Ihr Wohnzimmer kommt, oder Sie Skulpturen zuhause ausdrucken.
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Leseempfehlungen:
New York Times Magazine: Storyseller: How Amanda Hocking, 26, having reached peak rankings on the Kindle e-book best-seller list, solved the publishing business all by herself.
ZDF Hyperland: Instant E-Books: Eilige Sachbücher verändern den Buchmarkt
Spiegel Online: Die E-Book-Frage Wer braucht noch einen Verlag?