Nicht nur verlassen wir uns allenthalben auf die Technik ihre mathematischen Mechanismen – wir haben das Wissen auch noch auf so viele Köpfe verteilt, daß niemand mehr das Ganze überschaut.
Ein Jahr lang habe ich über alles geschrieben, was man berechnen kann. Jedes Mal, wenn ich dachte, mir fiele nichts mehr ein, kreuzte doch irgendein Thema meinen Weg. Arbeitslosenstatistik, Inflationsrate, Mikrozensus – das waren ja ziemlich naheliegende Themen. Bei Wettermodellen mußte ich ich auch erst einlesen, ebenso bei Algorithmen für den Bahnfahrplan. Oder bei Statistiken und Manipulationen zu sozialen Fragen, zu Waffen, zu Kriminalität. Von Pharmakometrie wiederum hatte ich noch nie etwas gehört, das war echtes Neuland. Aber sehr interessant.
Am Ende bin ich selber überrascht, in wievielen alltäglichen Themen und Angelegenheiten Mathematik im weitesten Sinne drinsteckt. Von den Grundrechenarten an der Supermarktkasse über die 0en und 1en im Computer bis hin zu hochkomplexer Forschung: ohne Mathematik geht wirklich nichts mehr. Der Mensch hat sich die Mathematik untertan gemacht und setzt sie für unendlich viele Zwecke ein.
Es ist ein weiter Weg vom Satz des Pythagoras vor 2.500 Jahren bis zum heutigen Computer. Letzterer wäre aber ohne Mathematik nicht denkbar. Ohne Zusammenarbeit aber auch nicht. Ich saß zwar nicht daneben, als Pythagoras den glänzenden Einfall hatte, Dreiecksseiten zu quadrieren und addieren, aber ich nehme an, es war kein Gruppenprojekt und es gab auch kein gemeinsames Brainstorming und Mind-Mapping vorher.
Anders mit der modernen Technik: niemand kann mehr sämtliche dahinterliegenden Prozesse gänzlich verstehen – Aufgaben und Verantwortlichkeiten sind meistens hochgradig spezialisiert. In so einem laufenden Computer steckt eine Unmenge an Ingenieurswissen:
Wie man all die vielen Kleinteile im Inneren so kombiniert, daß ein Rechner am Ende läuft.
Wie man die Technik dahinter in ein kleines Plastikgehäuse verpackt, die sich möglichst gut anfühlen sollen.
Wie man Plastikteile formt und geschickt miteinander verschraubt.
Wie man Maschinen baut, die Plastikteile formen und zusammensetzen.
Wie man Maschinen entwickelt, die Plastikteile formen und zusammensetzen können.
Wie man Maschinen antreibt, die Plastikteile formen und zusamensetzen können.
Wie man Kraftwerke betreibt und die Energie durch die halbe Welt schickt.
Und was wäre der Computer am Ende ohne Strom, Täschchen, Software und IT-Hotline?
Verfolgt man die vielen kleinen Inputs, und die Unmengen von Wissen, die im Laufe der Wertschöpfungskette in einen Laptop eingegangen sind, alle bis zu ihrem Ursprung, kommt eine Unmenge Wissen zusammen, verteilt auf Unmengen Menschen. Natürlich sind davon viele Qualifikationen sehr ähnlich, aber ohne jeden einzelnen von ihnen wären wir aufgeschmissen.
Ich habe vor kurzem ein interessantes Buch gelesen: Malevil, von Robert Merle. Darin verbringen einige Menschen einen Vormittag in einem Burgkeller, Weinflaschen umdrehen. Eher zufällig sind sie dort zusammengetroffen, als es plötzlich für längere Zeit (zwei Tage?) unglaublich heiß wird, wie im Backofen. 70 Grad oder so. Sie sind schlau genug, erst mal im Keller zu bleiben, und als sie diesen wieder verlassen, stellen sie fest: draußen ist alles verbrannt. Über die Ursache können sie nur mutmaßen, jedenfalls müssen sie mit drei Pferden, zwei Kühen und den Vorräten, die das Feuer ihnen im Schutz der Burg gelassen hat, ihr Leben völlig neu ordnen. In vieler Hinsicht eine Robinsonade, aber eine, bei der die sozialen Dynamiken unter besonderen Bedingungen besonders beleuchtet werden. Ein spannendes Buch, bei dem ich mehr als einmal denken mußte: wie völlig verloren und hilflos ich in so einer Welt wäre. Ich kann keine Kühe melken, weiß nichts über Gartenbau oder Landwirtschaft, über die Herstellung von Butter oder Käse, könnte giftige nicht von essbaren Gewächsen unterscheiden. Die moderne Wirtschaftslehre würde mich ohne Frage als hochqualifizierte Arbeitskraft einstufen, aber unter anderen Umständen wären meine Fähigkeiten keine fünf Cent wert. Ebensowenig die Fähigkeiten der Computertechniker. Plastikteilformer und Maschinenbauer hätten es da schon wesentlich besser: vermutlich ließen sich deren Kenntnisse auf Landmaschinen und Haushaltsgerät übertragen. Die neue Wirtschaftselite hingegen: weitgehend nutzlos, sofern sie nicht zufällig über Wissen aus privatem Interesse verfügt, das unter anderen Umständen immer noch wertvoll wäre.
Erinnert sich noch jemand an die Stromausfälle im Winter vor einigen Jahren, als halb Westfalen für einen ganzen Abend dunkel wurde? Freunde berichten, daß sie mit sich kaum noch etwas anzufangen wußten. Ohne Strom kein Fernseher, kein Radio, kein Internet. Telefonieren hätte man können, übers Handy, aber wer wollte schon aus Langeweile seinen Akku entleeren unter solchen Umständen? Glücklich, wer Kerzen im Haus hatte, der konnte wenigstens lesen. Alle anderen sind, so scheint es, ins Bett gegangen. Daß viele das zu zwei taten, hat sich angeblich sogar in der Geburtenstatistik neun Monate später niedergeschlagen. Ich möchte gar nicht wissen, wieviel Menschen in Deutschland ohne Technik kaum noch etwas mit ihrer Zeit anzufingen wüßten – was ich weiß ist: die Mehrheit von uns wäre, um hundertfünzig Jahre in der Entwicklung zurückgeworfen, rettungslos verloren.
Das ist die schlechte Seite. Die gute ist, daß die moderne Arbeitsteilung ganz wesentlich den Wohlstand der westlichen Welt erst ermöglicht hat. Und ohne Arbeitsteilung gäbe es auch die ganzen Annehmlichkeiten nicht, an denen wir uns erfreuen: Geld abheben an jeder Ecke. Bahnfahrten mit Tempo 200. Moderne Medikamente in optimaler Dosierung. Wettervorhersagen – damit der Koffer richtig gepackt werden kann.
Alles Dinge, denen wir mit Hilfe der Mathematik zu Leibe rücken, und meistens mit Erfolg. Manche Themen entziehen sich hingegen hartnäckig der quantitativen Erfassung und wollen sich einfach nicht messen, berechnen, und erklären lassen. Auch darüber habe ich hier manchmal laut nachgedacht. Glück, so stellte sich heraus, läßt sich ganz gut messen. Dunkelziffern sind schwierig, aber Ansätze sind sehr wohl da. Naturkatastrophen sind außerordentlich schwierig zu versichern, vor allem in Zeiten des Klimawandels, und bei Terrorismus stößt die Versicherungswirtschaft endgültig an ihre Grenzen. Aber versucht haben wir es, und die Ergebnisse sind immerhin so weit gediehen, daß es sich darüber zu schreiben lohnte.
Nachdem ich mir nun also ein Jahr lang alle paar Wochen den Kopf zerbrochen haben, dürfen Sie jetzt mal: was kann man noch berechnen? Oder auch nicht berechnen, obwohl das Bemühen sehr wohl da ist? Worüber würden Sie gerne hier etwas lesen (im Rahmen des Themas, versteht sich)? Machen Sie bitte ein paar konstruktive Vorschläge, worüber ich in nächster Zeit schreiben könnte – sonst bleibt hier möglicherweise irgendwann die Küche kalt und ich serviere Aufgekochtes vom Vorjahr.