Das neue Verbraucherportal www.lebensmittelklarheit.de soll für mehr Klarheit bei der Kennzeichnung von Produkten sorgen. Die Seite setzt auf Bürgerbeteiligung, um Mogelpackungen aufzudecken. Antworten zu gesunder Ernährung sucht man jedoch vergeblich.
Im vergangenen Oktober hatte Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) es angekündigt: ein Internetportal zur “Klarheit und Wahrheit bei Lebensmitteln” sollte zusammen mit den Verbraucherschutzzentralen die deutsche Genussgemeinschaft darüber aufklären, was sich hinter den bunten Etiketten und kreativen Namensgebungen von Nahrungsmitteln in Wahrheit verstecke. Der “Internetpranger” für lügende Leckereien ist in der vergangenen Woche für die Verbraucher ins Netz gegangen. lebensmittelklarheit.de heißt die Informationsseite, die in den ersten Stunden ihrer Webpräsenz vor allem mit Abwesenheit glänzte, da die Server im Zuge des Ansturms wissbegieriger Bürger in die Knie gingen.
Schaut man nun auf die Seite, ist von dem hohen Interesse und einem Austausch zwischen Konsumenten und Verbraucherschützern wenig zu spüren. Erst etwa zwei Dutzend Produkte, die von jemandem mit dem Verdacht auf irreführende oder täuschende Kennzeichnung eingereicht wurden, sind auf dem Portal besprochen worden. Laut Angabe der Betreiber prüfen Mitarbeiter der Verbraucherzentralen derzeit mehr als einhundert Anfragen. Zielsetzung ihrer Arbeit ist:
“Das Internetportal soll Verbrauchern ermöglichen, sich aktiv in den Diskussionsprozess über die unklare Kennzeichnung von Lebensmitteln oder über irreführende Produktaufmachungen einzubringen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband und die Verbraucherzentralen wollen die Verbraucher aus der passiven, beobachtenden Rolle herausholen. Die Betroffenen sollen zu Wort kommen und sich aktiv durch Einsenden von konkreten Produktbeispielen einbringen.”
Betrachtet man das elektronische Formular, das sich beteiligende Nutzer ausfüllen müssen, um eine Produkttäuschung prüfen zu lassen, denkt man unmittelbar an einen schwäbischen Wutbürger oder an Menschen, mit viel zu viel Zeit, die nun Supermärkte auf geeignete Prangerobjekte durchforsten, die sie vermutlich aber noch nie verspiesen oder gekauft haben. Neben den Textfeldern sollen, damit die Beschwerde auch tatsächlich geprüft werden kann, zudem Anlagen wie Fotos, Scans und PDFs beigefügt werden. Die Beteiligung, die das Projekt ermöglicht, hat für ein Onlineprojekt also recht hohe Hürden, die einen hochmotivierten Nutzer voraussetzt, der zudem weniger ein Diskussionsbedürfnis hat, sondern eine Website lieber wie eine Beamtenstube verwaltet. Eine Community wird auf lebensmittelklarheit.de nicht aufgebaut; die User können Fragen einreichen lassen und von einem Redaktionsteam beantworten lassen. Dieses Frage-und-Antwort-Spiel nennt sich in diesem Falle “Forum”. Erst nach redaktioneller Bearbeitung der Anfrage werden diese und die dazugehörige und Antwort gemeinsam auf der Seite publiziert. So werben die Verbraucherzentralen zwar für eine höhere Transparenz bei der Verpackung von Lebensmitteln, welche Fragen andere jeodch bereits gestellt haben, sehen die Nutzer der Seite nicht. Untereinander können sie nicht ins Gespräch kommen. Auch dringt das Angebot nicht in die bestehenden sozialen Netzwerke wie Twitter und Facebook ein und lässt das Interaktionspotenzial dort ungeachtet.
Wie recherchiert der hungrige, aber ängstliche Einkäufer nun welche Produkte vorgeben, etwas anderes zu sein? Dazu bietet die Website zwei Möglichkeiten: Sie geben entweder einen Suchbegriff in die Maske ein und bekommen Ergebnisse dazu ausgeliefert, oder Sie wählen in der Navigation den Menüpunkt “Produkte” aus und klicken sich von dort aus weiter. Die Unterkategorien im Produktbereich sind: Kennzeichnung, Erscheinungsbild, Füllmenge + Preis, Zutaten, Zusatzstoffe + Imitate, Natur + Region. Dies macht zwar einen gewissen Sinn, möchte ein Konsument sich darüber informieren, welche Arten der Täuschung es im Lebensmittelbereich es in konkreten Nahrungsmittelgruppen gibt, wie zum Beispiel bei Milchprodukten, Schokolade, Müsli und weitere, muss er hier mühselig mit Suchbegriffen recherchieren. Zusammengefasste Übersichten gibt es nicht.
Dass man diese Website hätte sehr viel besser machen können – in Logik, Nutzerfreundlichkeit, Communitybeteiligung über mehr als ein starres Formular – ist jedoch nicht der springende Punkt. Dass ein Ministerium und die Verbraucherschützer bei dem wichtigen Thema “Gesunde Ernährung” einen kommunikativen Schwerpunkt auf die Kennzeichnung von Lebensmitteln legen, sendet zwar einen Auftrag an die Nahrungsmittelproduzenten und schafft möglicherweise erhöhte Sensibilität bei den Konsumenten, hilft aber so gut wie gar nicht dabei, gesünder zu essen.
Essen als zu meisternde Lebensaufgabe ist vor allem in besser gebildeten Kreisen, im Sport und unter Essgestörten ein Debattenthema. Diese Gruppen können die notwendige Zeit zur Wissensaneignung und das Geld für den Erwerb für Verpfleung ausgeben, die als besonders gesund gilt. Die gesetzlich geforderte Auszeichnung von Lebensmittel zu erweitern oder die Produktverpackung und Bewerbung der Kost detaillierter zu regeln, wird daher wenig helfen, überlegtes Essen als Teil der Gesundheitspolitik zu fördern. Auch die fortwährend diskutierte Ampel-Kennzeichnung wird erstens die Wirkungskraft von Zigarettenwarnungen entfalten können (= keine), weiterhin begreift sie schädliches Essen viel zu einseitig. Vor Zucker, Fett und Salz soll die “einfache” farbliche Erklärung von Inhaltsstoffen warnen. Dabei betont sie vor allem die negativen Aspekte von Essen und vernachlässigt darauf hinzuweisen, welche wichtigen Nährstoffe Nahrung auch enthalten kann. Vor allem aber geht sie dem problematischen Fragen von industriell produziertem Essen aus dem Weg: Welche künstlichen, möglicherweise gesundheitsbeeinträchtigenden Stoffe enthält das Produkt? Wie viele Eier von unglücklichen Hühnern kann ich mein Leben lang essen, ohne krank zu werden? Wieviel Antibiotika und Hormone sind in diesem Stück Schweinefleisch? Warum musste der Kürbis aus Argentinien anreisen? Warum schmeckt diese Tomate nach Wasser?
Zu Ernährung und Gesundheit lassen sich unendlich viele, wichtige Fragen formulieren, die unmöglich als Packungsbeilage zu jedem Lebensmittel zu finden sein könnten oder sollten. Endlose Information zur Verfügung zu stellen wirkt bei diesem Thema wie ein Alibi, dass ein echtes Konzept vermissen lässt, wie man Verbrauchern Ernährungskompetenz vermittelt – aber vor allem handelt, was den Schund der Supermarktregale anbelangt.
Zwar ist Ilse Aigner nicht mehr bei Facebook und hat für die wirklich wichtigen gesundheitlichen und ökologischen Aspekte von Nahrungsmitteln und ihrer Produktion kein Debattenportal gelauncht, Brief oder E-Mail werden sie aber vielleicht auch erreichen. Ich würde sie gerne fragen, warum 90 Prozent der in herkömmlichen Supermärkten angebotenen Lebensmitteln hinsichtlich einer gesunden Ernährung eigentlich ungenießbar sind, und die schmale Wahl, die ich habe ist, naturbelassenen Lebensmitteln selbst zu verarbeiten. Warum brauchen wir Warnhinweise auf Lebensmitteln, die nach gesetzlichen Vorschriften gefertigt wurden? Warum darf Fleisch, dass aus Fetzen, Fett und Chemie zusammengepresst ist, überhaupt verkauft werden darf. Warum Tiere, die gegessen werden, mit Medikamenten und Abfall gefüttert werden dürfen. Warum ich einen Apfel drei Stunden lang schrubben muss, bis die letzte Chemikalie von ihm gewichen ist und dann immer noch im Fruchtfleisch lauert. Warum die Innovationen in der industriellen Lebensmittelproduktion sich auf wiederwärtige Joghurtgeschmacksrichtungen beschränken, und ob das Sonnensalz so heißen darf, wenn der Sommer sich doch verkrochen hat.