Es gibt unendlich viele Anwendungsfelder für Ökonometrie. Eine besonders spannende Nische ist die Verwendung als Beweis vor Gericht, vor allem bei Klagen im Wettbewerbs- und Diskriminierungsrecht.
Es ist immer wieder verblüffend, welche Vielfalt manche Methoden bieten, was für abseitige Verwendungszwecke sich für Mathematik finden.. Regressionsanalysen zum Beispiel, werden oft und gerne in der Wissenschaft und Politikberatung genutzt – manchmal vielleicht auch mißnutzt. Ein sehr spezielles Anwendungsfeld für diese Art statistischer Analysen ist die Pharmakometrie, aber, wer hätte das gedacht: auch in Gerichtsverhandlungen kann Ökonometrie nützlich sein.
So nützlich, daß eine Reihe von Gerichtsverhandlungs-Ökonometrikern sich sogar in publizierten Fachaufsätzen damit auseinandersetzen, wohlgemerkt juristischen wie auch statistischen Fachzeitschriften. Fängt man erst einmal an, darüber nachzudenken, sind die Anwendungsmöglichkeiten natürlich gar nicht so abwegig. Insbesondere in Verhandlungen zu den Themen Kartell- und Wettbewerbsrecht Diskriminierungsklagen kann man mit Ökonometrie manches interessante Ergebnis produzieren.
In beiden Fällen liegt die Attraktivität der Regressionsanalyse darin, daß man das Zusammenspiel verschiedener Einflußfaktoren relativ gut auseinandersortieren kann. Besonders gut läßt sich dies am Beispiel von Diskriminierungsfällen erläutern. Unterschiedliche Gehälter von Männern und Frauen (oder Minderheiten) sind ja nicht automatisch Diskriminierung. Gehaltsunterschiede können sehr wohl gerechtfertigt sein durch Ausbildung, Erfahrung, Betriebszugehörigkeit, oder Verantwortung im Job, um nur einige Faktoren zu nennen. In begrenztem Umfang kann man sich in Firmen mit hinreichend großer Mitarbeiterzahl Durchschnitte, gestaffelt nach eben diesen Kriterien anschauen, so daß man nicht Facharbeiter mit Managern vergleicht, sondern sehr ähnliche Mitarbeiter. Dem sind aber zwangsläufig Grenzen gesetzt, schließlich kann man nicht beliebig viele Unterteilungen vornehmen und Tabellen haben nun einmal nur zwei Dimensionen.
Anders die multivariate Regressionsanalyse: sie kann theoretisch annähernd so viele Faktoren berücksichtigen, wie Beobachtungen (in diesem Fall Mitarbeiterdatensätze) vorliegen. Im allerbesten Falle kann man nach Abschluß langwieriger statistischer Tests sogar feststellen, daß es sich nicht nur um eine zeitgleiche Korrelation sondern einen kausalen Zusammenhang handelt.
Dies allerdings nur, sofern – und hier beginnen die Einschränkungen – diese Faktoren irgendwo zahlenmäßig erfasst wurden. M Fall von Diskriminierungsklagen braucht man also ein Kriterium, das das berufliche Anforderungsprofil bzw. Verantwortungsniveau systematisch für alle Mitarbeiter erfasst – andernfalls fehlt ein entscheidender Faktor üfr die Gehaltsunterschiede, was aus allerlei komplizierten statistischen Gründen das ganze gedankliche Modell über den Haufen werfen würde.
Als Voraussetzung dafür muß man sich prinzipiell darüber einigen, welches die „relevanten preisbeeinflussenden” Faktoren sind und ob eine Reihe von Grundannahmen erfüllt sind, auf denen die gesamte Methode basiert (zum Beispiel die Frage, ob der Zusammenhang linear ist oder nicht). Trotz all dieser Einschränkungen ist es nicht die schlechteste Methode, um festzustellen, ob beobachtete Gehaltsunterschiede innerhalb einer Firma systematisch oder zufällig sind, ob sie von Qualifikationsunterschieden getrieben werden, oder willkürlich sind – je nachdem, welche Art von Diskriminierung gerade zur Verhandlung steht. Auch aus dem Wettbewerbsrecht sind ökonometrische Methoden kaum noch wegzudenken.
Bei Verstößen gegen das Kartellrecht wird allgemein unterstellt, daß der mangelnde Wettbewerb Preise hochtreibt, sei es für Verbraucher oder auch für industrielle Abnehmer. Im Nachhinein den entstandenen Schaden ist einer komplexen Welt nicht einfach, und die „was wäre gewesen, wenn es kein Kartell gegeben hätte” läßt sich niemals mit völliger Sicherheit beweisen, wohl aber quantitativ schätzen. Möglicherweise sind solche Modelle noch etwas schwieriger zu spezifizieren, weil noch mehr Faktoren mit all ihren Wechselwirkungen zu berücksichtigen sind und sich bereits bei den verschiedenen Preis, Angebots- und Nachfragemodellen die wissenschaftlichen Geister streiten. In der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung ist die Methode schon seit Jahrzehnten angekommen, in amerikanischen Gerichten interessanterweise auch. Gleiches gilt für Klagen im Bereich des Wettbewerbs- und Kartellrechts.
Schon in den siebziger Jahren legten sich diskriminiert fühlende Kläger in der Verhandlung ökonometrische und statistische Schätzungen als Beweismaterial vor, das auch zugelassen wurde – der berühmte Präzedenzfall. Dabei hatte der erste Fall gar nichts mit Gehältern zu tun: in Castaneda vs. Partida (1977) ging es um ein hispanisches Mitglied einer Jury, und der Kläger versuchte mit Statistik zu zeigen, daß eine Diskriminierung nach Herkunft vorlag. Mittlerweile sind die Gerichte dort soweit gediehen, daß in manchen Fällen das Gericht in seiner Urteilsbegründung darauf verwies, daß eine Partei keinerlei statistische Beweise beigebracht hatte. Man könnte fast sagen: in bestimmten Fallgebieten ist der Ökonometriker aus der Beweissammlung gar nicht mehr wegzudenken.
In Europa hinken wir, wie so oft bei den Segnungen, die über den großen Teich auf uns kommen, noch ein wenig hinterher. Für Diskriminierungsfragen hat das Schweizerische Bundesgericht durchaus bereits statistische Auswertungen als Beweismaterial akzeptiert und man arbeitet sogar an einer Standardmethode, die irgendwann den Unternehmen den freiwilligen Selbsttest online ermöglichen soll. In Deutschland hingegen konnte ich keine Referenz dazu finden.
Im Wettbewerbsrecht hingegen hat sich vor nicht allzu langer Zeit die EU-Kommission zur Frage der Verwertbarkeit statistischer „Beweise” geäußert und einen entsprechenden Leitfaden für die Zulässigkeit bestimmter Methoden verabschiedet. Dieser ist zwar nicht bindend für nationale Gerichte und hat allenfalls Empfehlungscharakter – manche solcher Empfehlungen haben in der Vergangenheit allerdings groß Karriere gemacht und wurden irgendwann Standard. Aus Sicht der Ökonometriker dürfte das beinahe lachhaft sein – die Methode macht nach wie vor immer wieder erhebliche Fortschritte in Grundsatzfragen. Gar nicht zu reden von den Schwierigkeiten der Interpretation. Im Zweifelsfall muß das Gericht – mit oder ohne quantitative Kompetenz – entscheiden, was es glaubt. Im Fall Sheehan vs. Daily Racing Form (1997) klagte ein älterer Mitarbeiter einer Sportwettenzeitschrift über seine Entlassung und sah sich altersmäßig diskriminiert. Im Rahmen einer Firmenfusion waren vorwiegend Mitarbeiter über 48 Jahren entlassen worden. Tatsächlich konnten die Kläger in der Verhandlung eine ökonometrische Schätzung vorweisen, derzufolge das Alter ein entscheidender Bestimmungsfaktor der Kündigung gewesen war. Die Verteidigung hingegen zeigte ein anderes Modell, in welchem zusätzlich die vom Kläger vollständig ignorierten Computerfähigkeiten einbezogen wurden – womit das Alter (weil hochgradig korreliert mit Computerkompetenz) fast nicht mehr relevant war.
Wie bereits oben angedeutet, sind die Ergebnisse nur so gut und aussagekräftig, wie das Modell und die Erfüllung der Annahmen. Deren Beurteilung erfordert einige Sachkenntnis, auch die Fähigkeit, die Ergebnisse und ihre Implikationen und Einschränkungen einem statistisch ungeschulten Publikum zu vermitteln – durchaus vergleichbar mit spezialisierten medizinischen oder forensischen Gutachtern. Nur kommen letztere häufig in populären Fernsehserien vor – Ökonometriker habe ich dort hingegen noch nie gesehen. Vermutlich ist Statistik einfach zu wenig sexy für die Mattscheibe.