Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Unter Generalverdacht

Staatliche Überwachungswut und wachsendes Misstrauen der Bürger schaukeln sich immer weiter zu einem Teufelskreis der Paranoia auf

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben…” beginnt Kafkas düsterer Roman „Der Prozeß”. Und bis zum Ende bleibt im Dunkeln, welches Vergehen dem Protagonisten eigentlich zur Last gelegt wird. Der Gedanke, dass K.‘s Verbrechen womöglich präemptiv gesühnt wurde, also bevor er es überhaupt begehen konnte, ist wohl nur den wenigsten Kafka-Interpreten gekommen. Und gestehe ichs offen, die werkimmanente Betrachtung legt diese Lesart auch nicht zwingend nahe. Aber angesichts aktueller technischer Entwicklungen scheint diese Variante zumindest nicht mehr völlig abwegig.

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Die Zeichen stehen an der Wand: Pre-Crime ist das nächste große Ding – und anders als im fiktiven Hollywood-Streifen „Minority Report” braucht es auch keine hellseherisch begabten Mutanten, um Verbrechen vorherzusehen. Sondern einfach nur sehr große Datenpools und intelligente Algorithmen, die in der Lage sind, die richtigen Merkmals-Kombinationen zu erkennen. In Santa Cruz beispielsweise hat das dortige Police Department bestimmte Muster in der lokalen Verteilung von bestimmten Delikten wie z.B. Einbrüchen erkannt – und zwar mit ähnlichen rechnerischen Verfahren, mit der Software bei Erdbeben die Wahrscheinlichkeit von Nachbeben lokalisiert. Vergleichbar mit Nachbeben gibt es in der Kriminalistik auch so etwas wie Nachverbrechen – und entsprechend dieser erkannten Muster versucht die Polizei neuerdings, die Routen ihrer Streifenfahrten in der kalifornischen Kleinstadt zu optimieren.

Die Frage nach dem „wo” mag da noch vergleichsweise trivial erscheinen, aber nach und nach nimmt das Erkenntnisinteresse der Ermittler das „wer” genauer ins Visier. Das US-Departement of Homeland Security arbeitet an einem Verbrechensvorhersageprogramm, das anhand von Kriterien wie ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter, Atemfrequenz und Herzschlag „böswillige Absichten” erkennen soll, bevor sie in die Tat umgesetzt werden. Diese „Future Attribute Screening Technology” (FAST) genannte Technologie wird dem Vernehmen nach derzeit an freiwillig Mitwirkenden aus der US-Heimatschutzbehörde getestet. Wobei die Behörde leider keinerlei Auskunft darüber gibt, welche bösartigen Absichten ihre beobachteten Mitarbeiter testweise offenbarten. Anhand von Video- und Audio-Mitschnitten kann das System jedenfalls auch Körpersprache, Schwankungen der Stimmhöhe und Lautstärke sowie die Atem- und Blinzel-Frequenz analysieren.

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Einen ersten Probeeinsatz in der freien Wildbahn hat FAST auch schon absolviert, wobei sich die federführende Behörde zugeknöpft gibt, in welcher Art von öffentlichem Raum das System zum Einsatz kam. Als spätere Einsatzorte nach der Serienreife kommen jedenfalls Flughäfen, Grenzübergänge sowie Sportstadien und Konzerthallen in Betracht. Gegenüber dem Newsportal cnet.com teilte ein Sprecher der US-Heimatschutzbehörde mit, dass FAST keinerlei personenbezogene Daten speichere und alle anfallenden Daten nur in anonymisierter Form verarbeitet würden. Zudem arbeite man ja mit freiwilligen Probanden. Ob dieses Statement seinen Speicherplatz im Netz auch dann noch wert ist, wenn das System mal ausgereift ist, darf bezweifelt werden. Wie sollte ein Opt-out denn noch möglich sein, wenn jeder Schritt und Tritt und jede Regung der Bürger im öffentlichen Raum gescannt wird?

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Gescannt und durchleuchtet wird auf alle Fälle, darüber braucht man sich keinen Illusionen hinzugeben. Doch nicht alles, was an Daten anfällt, muss der große Bruder auf die individuelle Ebene bis zu Winston Smith herunterbrechen. Auch im Aggregat sind Millionen Twitter-Nachrichten und Facebook-Statusmeldungen ein wertvoller Rohstoff. “Big Data” heißt das Zauberwort, das Sozialforscher in die Lage versetzen soll, politische Krisen, Revolten, ökonomische Instabilitäten präziser vorherzusagen – so wie die Bewegungsdaten von Handys heute schon in Echtzeit-Verkehrsinformationen einfließen. „Dies markiert einen großen Schritt vorwärts”, sagt der Sozialforscher Thomas Malone vom MIT in Boston gegenüber der “New York Times”. „Wir haben viel mehr und viel genauere Daten zur Verfügung und immer bessere Prognose-Algorithmen im Einsatz, und das ermöglicht uns Vorhersagen, die früher schlechterdings unmöglich gewesen wären.” Die US-Regierung hat bereits Interesse angemeldet und über die wenig bekannte Regierungsstelle Intelligence Advanced Research Projects Activity (IARPA) ein auf drei Jahre befristetes Forschungsprojekt ausgeschrieben, das in Lateinamerika „big data” zur weiteren automatisierten Auswertung sammeln soll. Es geht dabei um nichts Geringeres als um das Installieren eines „Auges im Himmel”, wie es in der Ausschreibung heißt.

Wer nun glaubt, Europa wäre immun gegen solche Komplett-Überwachungsphantasien, hat noch nie von INDECT gehört. Dieses Kürzel steht für “Intelligent information system supporting observation, searching and detection for security of citizens in urban environment”. Kurz gesagt geht es darum, die feuchten Träume aller Law-and-Order-Fetischisten technisch zu verwirklichen. Die Initiatoren reden von Sicherheit und meinen komplette Ausforschung und Überwachung – und die Verknüpfung aller möglichen Daten aus vielerlei Quellen, um mit Hilfe automatisierter Suchroutinen „Gewalt”, „Bedrohungen” und „abnormalem Verhalten” blitzschnell auf die Spur zu kommen. Als Quellen kommen dabei nicht nur das Internet und Mobilfunkdaten in Betracht, sondern auch Bilder von Überwachungskameras und sonst alles, was man so an Datenspuren hinterlässt. Das eigentlich erschreckende daran ist weniger, dass diese Instrumentarien zur Verbrechensbekämpfung herangezogen werden. Im Rahmen einer konkreten Strafverfolgung ist da heute schon sehr vieles möglich. Das eigentlich Fatale daran ist, dass es bewährte rechtstaatliche Prinzipien wie die Unschuldsvermutung aushebelt und uns alle mit dem Hinweis auf Gefahrenabwehr unter Generalverdacht stellt.

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Wo das langfristig hinführen könnte, haben Schriftsteller wie George Orwell oder Philip K. Dick in neo-kafkaesker Weise eindringlich beschrieben. Aber die unmittelbaren gesellschaftlich-politischen Folgen kann man bei Robert Anton Wilson im Vorwort zum „Lexikon der Verschwörungstheorien” nachlesen: „Daher werden die Leute immer feindseliger und „paranoider” gegenüber dem Staat; und die Regierung, die das merkt, wird immer nervöser wegen irgendwelchen „Militanten” oder „Kulten” oder „Hippies” oder „Extremisten”, die sich überall aufhalten und alles mögliche aushecken könnten. Daher stellt die Regierung mehr Lauscher und Abhörer ein, legt mehr Wanzen und spioniert das Volk mit immer größerem Eifer aus. Diese seltsame Schleife wird schnell zum Teufelskreis, da sich die staatliche Paranoia und die des Volkes in Sachen Staat gegenseitig aufschaukeln.”