Früher war das mit den kritischen Inhalten und ihrer Verbreitung nicht so einfach: In alten Büchern etwa findet sich oft die Erwähnung, dass sie mit Erlaubnis und Privileg der Obrigkeit gedruckt wurden. Anders gesagt: Es gab eine Behörde, die darüber wachte, dass nichts Unerfreuliches in den Büchern stand. Keine Verderbnis der Moral, keine Ketzerei, keine Beleidigung der eigenen guten Sache. Wer sich nicht daran hielt, wanderte nicht zwangsläufig auf den Scheiterhaufen, aber die normalen Vertriebswege waren gesperrt. Dann musste man eben schmuggeln und unter dem Ladentisch verkaufen. Der unten abgebildete Torquato Tasso etwa ist zwar laut Eigenaussage erlaubt, stand aber andernorts auf dem Index der verbotenen Schriften.
Beim elektonischen Gerät daneben ist das natürlich lächerlich. Wir leben nicht mehr im 18., sondern im 21. Jahrhundert, die Aufklärung hat sich in einigen Teilen Mitteleuropas durchgesetzt, und generell ist es so, dass man auch etwas Negatives schreiben darf. Das nennt man Informations- und Meinungsfreiheit, und hätte ich ein neues Handy und nicht diese alte Gurke, die vor 7 Jahren das heisseste aller Geräte und 449 Euro teuer war, dann könnte ich solche kritischen Informationen auch abrufen. Selbst dann, wenn sie sich kritisch mit dem Treiben meines Netzdienstleisters oder dem Hersteller des Gerätes auseinandersetzen würde.
Anders wäre es allerdings, würde ich dem allgemeinen Druck zur ständigen Erneuerung des Telefonbesitzes nachgeben und mir, wie inzwischen gut die Hälfte meines Umfeldes – und mitunter ist das nicht die bessere Hälfte, sondern auch die Angeber und Komplexminderwertigen – überteuerte Gerätschaften mit einem i vor den Namen des Objekts kaufen. Mit diesem iGerät nämlich würde ich das Netz, wie es ist, teilweise verlassen, und in einen Bereich wechseln, in dem nicht mehr die Verfügbarkeit im Netz die Information bestimmt, sondern das, was diese iFirma namens Apple in ihrem eigenen System zulässt. Das kann man sich wie ein kleines Duodezfürstentum im Italien des 18. Jahrhunderts vorstellen: Nicht die Menschenrechte gelten und die Gesetze, sondern die Regeln der Firma. Und da gibt es kein Gericht und keine Verfassung, die daran etwas ändern könnte. Apple könnte zum Beispiel eine Torquato-Tasso-App jederzeit aus dem Webshop für seine Geräte entfernen, weil Gerusaleme Liberata gegen die Regelung für Apps 15.2 verstösst: Apps that depict violence or abuse of children will be rejected.
Zum Glück muss man sagen, dass diese Regelung Apple nicht davon abhält, eine App des Spiels Mafia Wars – neben anderen vermutlich ähnlich komplett gewaltfreien Freizeitvergnügen – in seinem Store zu vertreiben. Weniger Glück hatten dagegen die italienischen Spieledesigner von Molleindustria mit ihrem Spiel „Phone Story”. Molleindustria versucht schon seit längerem, Spiele gegen den Baller-Mainstream auf die elektronischen Geräte zu bringen, und auf den ersten Blick ist Phone Story nichts weiter als eine typische Schöpfung. Auf vier Spielebenen werden den Nutzern die grösseren Probleme der Herstellung immer neuer Geräte gezeigt: Vom Coltanabbau der Warlords im Kongo über die Ausbeutung in chinesischen Firmen und den verantwortungslosen Konsum in den reichen Ländern bishin zur Problematik des Elektroschrotts in der dritten Welt. Verbunden wird das mit der Aufforderung, sich weiter damit auseinanderzusetzen,
Vielleicht ist das Spiel nicht auf allen Ebenen geschmackssicher. Aber die Ausbeutung von Kindern, die nachgespielt wird, ist Realität im Kongo. Die Netze, die Selbstmörder vom öffentlichkeitswirksamen Sprung von Firmengebäuden abhalten sollen, sind keine Erfindung von Molleindustria, sondern von einer Firma, die die iGeräte im Auftrag von Apple produziert. Die Sensationsnachrichten über die Vorbestellung des Iphone 4s und der Hype um die Produkte sind tatsächlich, vorsichtig gesagt, selbstverstärkend. Und das Elend des Mülls, der durch das Wegwerfen vollkommen intakter Geräte entsteht, ist auch hinlänglich bekannt und dargestellt. Phone Story verpackt alle Aspekte in ein kleines Spiel und bringt es dorthin, wo die potentiellen Verursacher sind, um sie auf ihr Treiben aufmerksam zu machen: Zu den Kunden.,
Aber nicht mehr auf dem iPhone oder anderen Geräten, egal welcher Baureihe, wie Apple schnell Molleindustria aufgrund folgender gebrochener Regeln wissen liess:
15.2 Apps that depict violence or abuse of children will be rejected
16.1 Apps that present excessively objectionable or crude content will be rejected
21.1 Apps that include the ability to make donations to recognized charitable organizations must be free
21.2 The collection of donations must be done via a web site in Safari or an SMS
Womit natürlich nicht die Frage beantwortet ist, wie man denn sonst all das Unschöne darstellen soll, das mit der Herstellung solcher Geräte verbunden ist. Vielleicht sollen die Kinder im Kongo das Coltan verschenken, und die Chinesen vor Freude über die Bezahlung in den Tod springen? Vielleicht aber will man die Darstellung auch gar nicht? Vielleicht sollte man besser Spiele machen, die die Produktion als segensreich darstellt, weil die Kinder im Kongo ohne Coltan in eine langweilige Schule müssten, und Elektromüll immer noch besser ist als gar keine Computer? Apple hat die Regeln, die gelten nun mal beim kleinsten Verdacht, Widerstand ist zwecklos, und auch, wenn die Sache mit den Spenden vielleicht nicht zutreffen sollte: In der iWelt hat Phone Story keinen Platz mehr. Und im Gegensatz zum Kirchenstaat des 18. Jahrhunderts gibt es hier noch nicht mal einen Ladentisch, unter dem man die App doch durchreichen könnte. Keine Frage: Kardinalskollegien und Inquisitoren würden Apple kaufen. Da hat mit “Freedom from Porn”, so Steve Jobs, auch der Schund keine Chance.
Wer nicht dem iKult seine Opfer darbingt, hat es natürlich leichter – bei Android funktioniert Phone Story – aber bei Apple muss man sich um lästige Fragen wie Herbeiführung von Kadavergehorsam und die richtigen Informationen keine Sorge machen. Warum auch, die Produkte werden trotzdem gekauft und genutzt. Apple kann sich diese Gottherrlichkeit im eigenen Herrschaftsbereich leisten, selbst wenn der Gegner nur eine winzige App ist, die nichts anderes als das darstellt, was eigentlich all die schicken und gebildeten Applenutzer eigentlich wissen sollten. Man darf das iGerät kaufen, das zu den dargestellten Problemen führt. Man darf sie aber nicht nachspielen. Denn das Gerät ist Gott, und es ist ein eifersüchtiger Gott.
Wie gesagt: Die Aufklärung hat sich in einigen Teilen Mitteleuropas durchgesetzt. In anderen hält man kleine, weisse Kisten für so schick, wie man im Mittelalter Stundengebetbücher für schick gehalten hat, und sich die erlaubte App herunter, wie man sich früher den Ablass beim iNquisitor holte. Das ging lange gut, und es war lang auch lukrativ, bis etwa 1527.