Es ist lange überfällig, den Unterschied zwischen dem Leben im Netz und dem Leben im hier und jetzt aufzugeben. Das Netz ist an dieser Stelle zuende, es hat sich als Ort aufgelöst, es ist überall dabei, auf Schritt und Tritt. Doch was bedeutet das?
Ein Schmunzeln huscht mir über das Gesicht. Sascha Lobo erklärt das Internet in seiner jüngsten Kolumne zur Heimat und beschließt den Text mit einem Bekenntnis, das noch viel wärmer klingt als der kuschelige Kaminplatz, als den er das Netz beschreibt: “Sascha Lobo ist dem sozialen Netz gegenüber positiv voreingenommen, weil er seine zukünftige Frau auf Twitter kennengelernt hat.” Ich wünsche den beiden eine glückliche, langlebige Echtzeitehe.
Ich erinnere mich wie ich mit einem Freund, dem ich über mein erstes Blog begegnete, bei rohem Fisch und Reis zusammensaß und wir versuchten herauszubekommen, wo wir uns das erste Mal abseits des Netzes getroffen hatten. Mir fällt es bis heute nicht ein. Zehn Finger reichen nicht aus um all die Menschen aufzuzählen, die ich das erste Mal im Netz sah, las und verfolgte, um auf festem Boden festzustellen, dass sie in 20 Zentimeter Entfernung mindestens genauso klug, eloquent und charmant sind wie in 140 Zeichen oder einem ausgewachsenen Blogpost. Aus virtuellen Begegnungen, die vermeintlich unverbindlich, oberflächlich und schnelllebig sind, haben sich Freundschaften entwickelt, die obwohl sie jünger sind als der gerade einmal fünf Jahre alte Microbloggingdienst Twitter, eine vertraute Tiefe haben, die nur aus dem gemeinsamen Sandkastenspiel im Kindergarten entsprungen sein kann.
Wenn ich mit meinem Freund kommuniziere, nutze ich abwechselnd und musterlos E-Mails, Videoanrufe, Facebook-Nachrichten, SMS oder ein Handzeichen zum anderen Ende des Raums. Zitiere ich in einem Gespräch Bekannte, bin ich mehr und mehr dazu übergegangen, nicht mehr den virtuellen Ort zu benennen, an dem das Gespräch geschrieben stand oder gesprochen wurde. Denn immer öfter bedeutet die Wahl des Kommunikationskanals vor allem eines: nichts. Auch Journalisten erkennen mittlerweile an, dass ein Statement eines Politikers oder einer Politikerin in einem sozialen Netzwerk ein O-Ton sein kann und nutzen diesen, ohne die Wahl des Kanals zu betonen. Ein Satz wird nicht weniger polemisch, nicht weniger wahr oder weniger wichtig, wenn er seinen Weg ans Licht über ein kleines Textfeld oder ein rauschendes Mikrophon findet.
Mit dem Auftauchen der Partei, deren Geburt konservative Köpfe im Internet ausmachen, entdecken nun Skeptiker das Netz, die es zuvor für eine Parallelwelt hielten; und mehr noch: sie beginnen es zu schätzen und sich dort nicht mehr fremd zu fühlen. Der CDU-Abgeordnete Peter Altmaier beschrieb diese Erfahrung in der vergangenen Woche in dieser Zeitung. Allein in der digitalen Welt könne man dieser neuen Partei habhaft werden, sie verstehen und gegen sie agieren – diese Haltung scheint den kalte Sprung ins Netz zu erklären, der hier gewagt wurde.
Doch was bedeutet es, dass zahlreiche Phänomene und Verhaltensweisen vermeintlich nur noch im Internet ergründet werden können? Was bedeutet es, dass es für zahlreiche Menschen keinen Unterschied mehr macht, wo sie Gespräche führen, Freundschaften pflegen, ihre Zeitung lesen, ihrem Kind eine gute Nacht wünschen, den Wintermantel kaufen, Straftaten begehen oder sich hoffnungslos verlieben?
Es ist lange überfällig, den Unterschied zwischen dem Leben im Netz und dem Leben im hier und jetzt aufzugeben. Das Internet gibt es nicht. Das Netz ist an dieser Stelle zuende, es hat sich als Ort aufgelöst, es ist überall dabei, auf Schritt und Tritt. Es gibt kein echtes Leben, kein Real Life und kein virtuelles. Jeder Mensch hat nur ein einziges davon.
Das bewusste Filetieren von Spuren im Netz und Gedanken auf der Parkbank als etwas grundlegend anderes kann in einem gesunden Hirn kaum stattfinden. Zwar mögen Menschen bei dezidierter Fragestellung Auskunft zu ihrer virtuellen Persönlichkeit oder sogar mehreren dieser Art geben, diese sind jedoch untrennbar verknüpft mit Körper und Geist der Person selbst. Die virtuellen Rollen unterscheiden sich nicht von den Rollen, in die Menschen in unterschiedlichen sozialen Kontexten schlüpfen, wie im Kontakt mit den Eltern oder dem Arbeitgeber.
Die Verschmelzung von Online und Offline zu einer Welt unterstreicht vor allem die Notwendigkeit, Verantwortung und Kommunikation neu und umfassend zu verstehen, vorallem aber Konflikte und Risiken nicht mehr als Netzphänomen zu betrachten, sondern als gesellschaftliche Herausforderungen. Eine Reduktion von Cybermobbing etwa auf einen virtuellen Missstand wird nicht dabei helfen, das Problem zu verstehen und anzugehen.
Eine Politik, die Menschen über Onlinekommunikation nur sporadisch ansprechen und beteiligen will, diskriminiert diese als Randgruppe, zu der sie den Kontakt verweigert. Sie wertet Lebensmodelle ab und verweigert sich einem gesamtgesellschaftlichen Dialog. Das Netz weiterhin als eigenständigen, mysteriösen Raum zu sehen und sich selbst zu überlassen, käme der Entscheidung gleich, in Nordrhein-Westfalen oder einem beliebigen anderen Bundesland die politische Arbeit einzustellen und Mitgestaltungsmöglichkeiten dort zu beschneiden.
Erst die Haltung, die Onlineaspekte des Alltags als andersartig, weniger wert und verzichtbar einzustufen, schafft eine Welt, die Rätsel aufgibt. Und erst der selbstverständliche Umgang mit technologischer Innovation, neuem Kommunikations- und Informationsverhalten, die Aufgabe des ständigen Hinterfragens, was mit der zunehmenden Digitalisierung des Lebens anders und schlechter und besser wird, kann einen Konflikt beilegen, der keiner sein dürfte. Es sind nur ein paar Kabel, blinkende Bildschirme, glänzende Augen und normale Menschen. Ein Integrationsproblem für beide Seiten, das sich per Handschlag auf Knopfdruck und Klick lösen ließe, wäre das Leben nur einen Augenblick spannender als die eigene Eitelkeit.