Entgegen landläufiger Annahmen hat Mathematik wenig damit zu tun, den Einkauf im Supermarkt addieren zu können. Viel dafür mit Logik, deren Grenzen und den Grenzen der Berechenbarkeit.
Im Laufe meiner – durchaus überdurchschnittlich langen – Universitätskarriere gab es genau eine Veranstaltung, in der ich, man kann es nicht anders sagen, wirklich grandios gescheitert bin. Seinerzeit gab es noch kein Bologna, kein Master und kein Bachelor, wohl aber alle jene heutzutage vielgelobten Freiheiten des mündigen Studenten. Auch damals mußte man jedoch eine bestimmte Anzahl Scheine sammeln, und natürlich waren die beliebten Seminare hoffnungslos überlaufen. Aus allerlei Gründen war ich außerdem terminlich sehr eingeschränkt und so meldete ich mich in aller Naivität für das einzig in Frage kommende Seminar zu Sprachphilosophie an. Russell, Frege, und vor allem Wittgensteins „Tractatus Logico-Philosophicos”, welches noch heute als Mahnmal der eigenen Grenzen mein Bücherregal ziert.
Strategisch denken konnte ich durchaus, wählte also ganz gezielt das erste Referat, die einführenden Texte von Russell schienen mir immerhin etwas leichter und fassbarer zu sein. Ich las Russell, ich las Wittgenstein, ich las Sekundärliteratur in Mengen, aber ich begriff nicht viel. Einführung in die Logik, das hatte ich noch verstanden, aber bei analytischer Philosophie versagt ich völlig , Am fraglichen Tag, ungefähr sechs Wochen ins Semester hinein, stolperte ich zehn verzweifelte Minuten lang durch mein Referat, Fragen konnte ich keine beantworten sondern beschränkte mich darauf, der Diskussion der übrigen – spärlich erschienen – Teilnehmer zu lauschen. Und darüber zu sinnieren, über was für eine intellektuelle Kapazität man wohl verfügen müsse, um diese Dinge zu verstehen. Fest stand danach: ich hatte sie nicht und einige Tage später suchte ich den Dozenten auf, teilte ihm diese meine Erkenntnis mit, und stieg aus dem Seminar aus.
Vermutlich, wenn man sich lange genug mit ihnen befasst, werden einem die Begriffe vertrauter. Tatsache, Gegenstand, Dinge, logischer Raum, in ihrer ganz spezifischen Bedeutung im Rahmen bestimmter analytischer Konzepte, sofern man denn grundsätzlich Verständnis für die Neigung hat, selbstverständliche Dinge (wie Sprache) hinterfragen zu wollen. So gesehen ist auch Russells Unterfangen, das Gedankengebäude der Mathematik komplett herleiten zu wollen, vermutlich nicht leicht zu verstehen. Zumal Mathematik hier nicht den Umgang mit Zahlen meint, sondern deren logische Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten, also Schlußregeln, Mengenlehre etc. Auf den ersten Blick sieht das nicht nach den Dingen aus, die man in der Schule gelernt hat, aber auf den zweiten doch, zum Beispiel die Prinzipien von Addition, Permutation oder Assoziation. Zielsetzung war es, die gesamte Mathematik aus einem Satz rein logischer Axiome herzuleiten (also aus unmittelbar einleuchtenden Grundsätzen, die keines weiteren Beweises bedürfen). Russell trat mit seinem Werk in große Fußstapfen und baute vor allem auf den Werken von Gottlob Frege und Giuseppe Peano auf. Tatsächlich lieferte er damit eine sehr vollständige Basis der damals bekannten Mathematik, auch wenn diese wesentlich weniger formalisiert war, als heute. Annähernd vollständig zwar, aber widerspruchsfrei nach Ableitung aus den zentralen Axiomen war sie nicht – wie Kurt Gödel etwa zwanzig Jahre später zeigte.
Gödel wiederum folgte – indirekt – einem Aufruf des Mathematikers David Hilbert, der auf einem Kongreß im Jahr 1900 die 23 (seiner, und seiner Kollegen Meinung nach) wichtigsten mathematischen Probleme präsentierte – darunter die Frage, ob die Arithmetik widerspruchsfrei sei. Konkreter formulierte er die Idee später im sogenannten Hilbertprogramm, und setze seiner Zunft das Ziel zu zeigen, daß das Axiomensystem und die daraus abgeleitete Arithmetik widerspruchsfrei sei. Die Betriebsanleitung sah unter anderem vor, die vielen mathematischen Theorien in systematische Zeichen umzuformulieren und damit handhabbarer zu machen, auf daß Beweisketten und Schlußregeln vollständig erfassbar und analysierbar würden. Mit Gödels Erkenntnis 1931 wurde das Programm Makulatur.
Gödel nutzte ebenfalls die Formalisierung von Aussagen und übersetzte diese wiederum – mit anderen Aussagen zusammen – in sogenannte Gödelnummern. Dabei wird jeder Aussage eine einzige Zahl zugeordnet, die sich auch von der Zahl einwandfrei zurückübersetzen läßt (zum Beispiel durch Verwendung von Primzahlen und deren Faktorzerlegungen). Mithilfe dieser Zahlen und dem Prinzip der Abzählbarkeit gelang es Gödel, einen Widerspruch im System offenzulegen, der wiederum zeigte, daß komplizierte und große Systeme (wie die Arithmetik) entweder unvollständig oder widersprüchlich sein müssen.
Der Beweis ist offenbar lang und zu kompliziert für minderbegabte Personen wie die Autorin, aber das Internet bietet auch Erklärungen an, die im Ansatz noch verständlich sind.
Ankerpunkt ist das Konzept der Abzählbarkeit. Abzählbar sind endliche Mengen, zum Beispiel {1,3,5} und die Menge der natürlichen Zahlen {0,1,2,…}. Indem man jeder natürlichen eine rationale Zahl gegenüberstellt, kann man zeigen, daß auch die rationalen Zahlen {½ , ¾…} abzählbar sind, nicht aber die reellen Zahlen, also zum Beispiel sonderbare Dezimalzahlen wie π (3,14…). Das ist etwas paradox, aber doch praktisch als Gedankenkonzept.
Mit dem Konstrukt der Abzählbarkeit ist das der „Mächtigkeit” verbunden. Für endliche Mengen bestimmt sich die Mächtigkeit nach der Anzahl der enthaltenen Elemente, und jede Menge, die gleichmächtig zu den natürlichen Zahlen ist (durch Gegenüberstellung jeweils zweier Elemente) gilt ebenfalls als abzählbar. Das, was andere kluge Köpfe mit Zahlenmengen getan haben, tat Gödel mit in Gödelnummern überführten Aussagen innerhalb eines formalen Systems. Er zählte also die Sätze eines geschlossenen Systems ab, darunter einen der Sorte „Der Satz mit der Nummer x ist nicht beweisbar”, alle mit einer Nummer versehen (bzw. durch diese repräsentiert). Stellt man nun die Elemente (Nummern) einander gegenüber und wendet das Prinzip der Diagonalisierung an, wie bei der Abzählung, so läßt sich zeigen, daß dabei nach Einsetzung für x für den Satz schließen läßt „Ich bin nicht ableitbar”.
Damit ist das System entweder unvollständig (weil sich dieser eine Satz tatsächlich nicht ableiten läßt) oder aber der Satz ist falsch – womit das System aber widersprüchlich wäre, weil für Widerspruchsfreiheit keine falschen Sätze zulässig sind. Dieses Paradox erinnert in seiner Struktur an die vielen Lügner-Paradoxe, über die unzählige Seminararbeiten verfasst wurden, wie zum Beispiel wenn der Kreter Epimenides behauptet, alle Kreter seien Lügner. Abgesehen davon, daß Gödels Beweis ein schwerer Schlag für Hilber und dessen ambitionierte Jünger war, hat er aber auch herausragende Bedeutung für viele Disziplinen.
In jedem formalen System der Zahlen, das zumindest eine Theorie der Arithmetik der natürlichen Zahlen ( ) enthält, gibt es einen unentscheidbaren Satz, also einen Satz, der nicht beweisbar und dessen Negierung ebenso wenig beweisbar ist.
Was nämlich für das von Gödel untersuchte System arithmetischer Aussagen gilt, läßt sich auf so ziemlich jedes System formalisierter Aussagen übertragen, unter anderem für die Grenzen der Berechnbarkeit – und die Fähigkeiten von Computern.
Wem das zu kompliziert war, den verweise ich gerne auf die poetische Variante von Enzensberger, da kommen nämlich nur Buchstaben vor.