Ägypten am Scheideweg: Wie eine Bloggerin mit nackten Tatsachen strenggläubige Muslime und die Obrigkeit provoziert
Auf dem zentralen Tahrir-Platz in Kairo liefern sich Demonstranten und Sicherheitskräfte seit Tagen erbitterte Gefechte, Tränengas, Knüppelhiebe und Gummigeschosse liegen in der Luft. Die Szenen sind kaum zu unterscheiden von den Unruhen im Januar, die letztlich zum Sturz des Diktators Mubarak führten. Die sogenannte Facebook-Revolution in Ägypten hat zwar den alten Pharao aus dem Amt vertrieben, doch von demokratischen Verhältnissen ist das Land am Nil so weit entfernt wie zuvor. Laut Amnesty International hat sich unter dem Regime des Militärrates die Menschenrechtssituation zum Teil sogar verschlechtert. Folter ist immer noch an der Tagesordnung, kritische Stimmen von Demonstranten, Journalisten und Bloggern werden mit allen möglichen Mitteln unterdrückt, und die brutalen Reaktionen der Sicherheitskräfte auf die Proteste auf dem Tahrir-Platz tragen die gleiche Handschrift wie in der Ära Mubarak.
Entsprechend wird auch der Begriff Facebook-Revolution (oder alternativ auch Twitter-Revolution) im Zusammenhang mit dem arabischen Frühling inzwischen deutlich nüchterner gesehen als im Frühjahr. Das ZDF-Hyperland-Blog trägt eine Reihe von unschönen Entwicklungen unter dem Titel „Das hässliche Gesicht der Twitter-Revolution” zusammen: Die sozialen Medien würden vermehrt zur Verbreitung von Falschmeldungen und Propaganda genutzt. Ausländische Unternehmen hätten sogar Wege gefunden, unter dem Deckmantel der Twitter-Revolution ein einträgliches Geschäft zu machen. „Die gesellschaftliche Transformation in der arabischen Welt bleibt weiterhin eng an die sozialen Netzwerke geknüpft”, schreibt Hyperland-Autor Frederik Fischer. „Doch weder Facebook & Co. noch die Revolution selbst hielten, was sich viele Anhänger davon versprachen.”
Daraus ist den Revolutionären und Protestierenden freilich kein Vorwurf zu machen. Eher müssten sich westliche Revolutionsromantiker und Web-Evangelisten an die eigene Nase fassen und erkennen, dass sie mit dem Jubel über die sogenannte Social-Media-Revolution im Nahen Osten nicht zuletzt ihren eigenen digitalen Lifestyle aufgewertet und abgefeiert haben. Wie hier an dieser Stelle bereits im Februar geschrieben, zählt bei Revolutionen die alte Trainer-Weisheit, entscheidend ist auf dem Platz – und das heißt nun mal nicht places.com oder foursquare, sondern eher Tianammen Square oder Tahrir-Platz.
Es wäre aber auch genauso verkehrt, das Internet mit seinen vielfältigen Möglichkeiten als Vehikel gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu unterschätzen. Im Moment sorgt die ägyptische Studentin Aliaa Magda Elmahdy für Furore. Per Selbstauslöser hatte sie eine Serie von Nacktbildern aufgenommen und zunächst bei Facebook hochgeladen. Nachdem Facebook die Bilder aus ihrem Profil entfernte, fragte ein Freund, ob er die Serie per Twitter veröffentlichen soll, und mit ihrer Zustimmung brachte Elmady den Stein richtig ins Rollen. Mit den Nacktbildern wolle sie „gegen Gewalt, Rassismus, sexuelle Belästigung und Heuchelei” in der ägyptischen Gesellschaft protestieren. Hier seien Frauen nichts als als Sex-Objekte, die tagtäglich von Männern schikaniert werden, die nichts über Sex oder die Bedeutung einer Frau wüssten, gab sie gegenüber CNN zu Protokoll. In ihrem Twitter-Profil bezeichnet sich Elmahdy als „säkulare, liberale, feministische, vegetarische, individualistische Ägypterin”. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr sei sie auch Atheistin.
Nacktheit ist in Ägypten ein Tabu, unter dem Regime des obersten Militärrats gibt es nach wie vor Zensur. Mit den gelben Balken in ihrem Tryptichon, die ihre Augen, ihren Mund und ihre Scham verdecken, spielt die Bloggerin auf die Zensur an. Bei der Staatsanwaltschaft in Kairo ist inzwischen eine Klage gegen Elmahdy und ihren Freund eingereicht worden, und die Wellen schlagen hoch in dieser Angelegenheit. In den Kommentaren ist alles dabei von frenetischem Beifall bis hin zu Beschimpfungen und Morddrohungen. Inzwischen hat die Aktivistin nochmal nachgelegt und auf Facebook ein Bild veröffentlicht, das sie zeigt, wie sie auf ein Stück Stoff tritt. Genauer gesagt nicht irgendein Stück Stoff, sondern ein Kopftuch. Aus Sicht vieler strenggläubiger Muslime ist das eine ungeheuerliche Provokation.
Und das in einer politischen Großwetterlage, in der islamistische Gruppierungen zunehmend Morgenluft wittern. Unter Mubarak wie auch schon zuvor unter Anwar El-Sadat waren die Muslimbrüder von politischer Teilhabe ausgeschlossen, viele saßen in Haft. Seit dem Sturz Mubaraks machen die strenggläubigen Kreise ihrem Unmut über die Verweltlichung und Verwestlichung der ägyptischen Gesellschaft immer lauter Luft. In den fortschrittlicheren Kreisen, die nicht zuletzt auch per Facebook und Twitter ihre Proteste gegen Mubarak organisiert haben, sieht man schon die Felle der Facebook-Revolution davonschwimmen. Schließlich ist man nicht dafür auf die Straße gegangen, dass Ägypten von den Strenggläubigen zu einer Art Gottesstaat mit Rechtssprechung auf Basis der Scharia umfunktioniert wird.
Am 28. November beginnen die ersten Parlamentswahlen seit dem Sturz von Mubarak, und ägyptische Gesellschaft steht am Scheideweg. Muslimbrüder und mehr noch die Salafisten wollen die Rolle der Religion im Staat gestärkt wissen. Die liberaleren Parteien hingegen sind in Sorge, ihre politischen Ziele könnten durch die provokativen Aktionen von Aliaa Magda Elmahdy in Misskredit geraten. Die revolutionäre Jugendbewegung vom 6. April, als deren Mitglied die Studentin in mehreren Medienberichten bezeichnet worden war, ist bereits auf Distanz zu Elmahdy gegangen und ließ verlauten, die junge Frau sei nie Mitglied dieser Bewegung gewesen. Im liberalen Lager nennt man ihre Aktionen mutig, aber auch gedankenlos und unverantwortlich. „Ich höre schon, wie Konservative sagen, so werden sich alle Frauen bald aufführen, wenn Ägypten nicht von einem islamischen Führer gerettet wird”, zitiert die Kairoer Zeitung „Bikyamasr” einen Aktivisten.
Aber längst sind das nicht mehr nur innerägyptische Angelegenheiten. In Israel hat sich per Facebook eine Gruppe von 40 Frauen verabredet, ein hüllenloses Solidaritätsfoto für die Ägypterin zu schießen. Zwar verhindert ein großes Leintuch allzu lüsterne Blicke auf die Teilnehmerinnen der Aktion. Aber die dreisprachig verfasste Botschaft auf dem Transparent ist unmissverständlich: „Hommage an Aliaa El Mahdi. Schwestern in Israel. Liebe ohne Grenzen.”