Der Beruf prägt die Sprache und das Denken, weshalb Volkswirte auch im Alltag gerne von Reservationspreisen und Opportunitätskosten sprechen- und dabei illustrieren, daß der Mensch doch nicht völlig irrational ist.
Kleider, so sagt man, machen Leute, und Studiengänge auch. Lehrer halten häufig auch außerhalb der Schule gerne Vorträge, egal für wen, und leidenschaftliche Blogger denken bei jedem Alltagsereignis gleich an die Geschichte, die sie daheim ihrer Leserschaft präsentieren werden. Ärzte haben keine Bäuche, sondern Abdomen und wenn Sie sich über eine Freundin ärgern, ist die Person kein bösartiges Biest sondern ein malignes Miststück.
Besonders gravierend scheint der Effekt jedoch bei Wirtschaftswissenschaftlern zu sein, wo sich das Fachvokabular schleichend aber sicher im Alltag ausbreitet, bis sie irgendwann von ihren Mitmenschen kaum noch verstanden werden. Ein Betriebswirt meiner Bekanntschaft referierte einmal in Länge über seine „unique selling propositions” bei der Partnersuche und verstand beim besten Willen nicht, warum ihn keine der Damen seiner Wahl haben wollte. Im Sprachgebrauch geradezu endemisch geworden sind „win-win Situationen”, „Kickoffs” und „Deals” – allerdings ist das Denken in Fachbegriffen kein Privileg der Betriebswirte, bei Volkswirten hört es sich lediglich klüger an (und ist es manchmal auch, weil mit den Begrifflichkeiten ernsthafte gedankliche Konzepte verbunden sind).
Wäre ich Volkswirtin, ich würde morgens nicht mit meinem inneren Schweinehund darüber diskutieren, ob ich den Bus zur Arbeit nehme oder doch die eigenen Füße bewege, sondern eine rationale Abwägung der Opportunitätskosten [~, die: Alternativkosten, Verzichtskosten, die dadurch entstehen, dass vorhandene Möglichkeiten zur Nutzung von Ressourcen unterblieben sind] vornehmen: wenn ich den nächsten Bus genau rechtzeitig erwische, spare ich Zeit – gebe aber Geld aus. Die Zeit könnte ich alternativ auch zum Lesen nutzen, das Geld wiederum auch für Schuhe oder Wein ausgeben.
Beim Schuhkauf wird ebenfalls sorgfältig abgewogen: sehr teure Schuhe bekommt die Frau von Welt für sehr teures Geld auf der Goethestrasse – oder auch in der Internetauktion. Mit ein bißchen Mühe finden sich dort kaum getragene 300-Euro-Schuhe für 30 Euro, allerdings: mit Suchkosten [~, die: Bestandteil der Transaktionskosten, bemisst die Anstrengung eines Agenten, eine bessere oder die beste Alternative zu identifizieren]. Nur wem es geradezu Freude bereitet, stundenlang Wortkombinationen durchzuprobieren und endlose Paare Schuhe zu sichten, für den lohnt sich die Strategie, denn der Zeiteinsatz ist erheblich. Würde man sich in derselben Zeit entlohnter Arbeit widmen, könnte man vom verdienten Geld auch gleich neue Schuhe erwerben. Andererseits führt der physische Einkaufe auf der Goethestrasse natürlich auch zu Suchkosten, schließlich muß man sich von Laden zu Laden bewegen, anprobieren, auf- und ablaufen, und mit Verkäufern diskutieren. Ein risikoadverses Individuum ist mit internetbasierten Plattformen grundsätzlich nicht gut bedient, denn die Risiken (Größe! Zustand! Ehrlicher Händler!) sind natürlich erheblich. Kann man natürlich auch miteinpreisen, aber dann wird die Auswahl noch enger.
Überhaupt, Preise. Als Volkswirt muß man Entscheidungen überlegt angehen. Wann immer verschiedene Konsumoptionen zur Befriedigung eines Bedürfnisses zur Auswahl stehen, macht sich der Volkswirt Gedanken über den Reservationspreis [~der, aus Sicht des Konsumenten der maximale Preis, den er für ein Gut oder eine Dienstleistung zu zahlen bereit ist]. Das Hotel in guter Lage bildet den Maßstab für alternative Untekünfte, wie zum Beispiel Pensionszimmer oder Schlafsofa bei Freunden. Der Kombipauschalurlaub ist die finanzielle Meßlatte für selbst zusammengestellte Angebote – oder umgekehrt. Hat man jedoch erst mal einen Fixpunkt gefunden, vergleicht es sich leichter und im Zweifelsfall verhandelt es sich auch leichter, weil die Grenzen gesteckt sind.
So umständlich und kompliziert sich diese Konzepte anhören – sie haben ihren Nutzen. Sowohl die Kaufentscheidung von Schuhen als auch die Verhandlungen über berufliche Optionen oder Gehälter lassen sich damit strukturieren. Natürlich braucht man keinen Abschluß in Volkswirtschaftslehre um zu wissen, daß ein neuer Job – so der alte gesichert ist – eine Verbesserung bringen muß, sei es in Aufgaben, Finanzen, Freizeit oder geldwerten Vorteilen. Dennoch hilft es sehr, sich die diversen Risiken und die alternativen Entscheidungsmöglichkeiten vor Augen zu führen. Viele volkswirtschaftliche Konzepte sind am Ende nur Definitionen, die eigentlich ganz selbstverständliche Zusammenhänge beschreiben. Risikoaversion, Preisfindung, Transaktionskosten, Reservationspreis – aber mit ihnen denkt es sich manchmal leichter als ohne. Denn so viel auch allenthalben auf den homo oeconomicus [~, der: Konzept vom rationalen Menschen, der vorwiegend seine eigene Interessen verfolgt] – so irrational wie der Investmentbanker auf seinen Märkten agieren die wenigsten Menschen.
Sogar die Bild-Zeitung weiß, daß Arbeit sich lohnen muß, gehaltsmäßig: sofern nicht die intrinsische Motivation [~, die: Bestreben, etwas um seiner selbst willen zu tun] sehr groß ist, arbeitet der Mensch nur, wenn er mit Arbeit mehr verdient als mit staatlichen Transferleistungen. Für mehr Wert ist man auch bereit, mehr Geld auszugeben, für subjektive Präferenzen ebenfalls, aber alles innerhalb bestimmter Grenzen. In Zeiten großer Unsicherheit zum Beispiel ist die Option „null Zins, null Risiko” durchaus attraktiv, was der Schweiz zu ungeahnten Geldzuflüssen verhilft, aber am Ende ist dieses Verhalten eben keineswegs völlig irrational, sondern unter den gegebenen Umständen höchst rational angesichts der Tatsache, daß in vielen anderen Länder potentiell der Vermögenstotalverlust droht.
Die Umstände und die vielschichtigen Entscheidungen von Menschen sind keineswegs völlig irrational, allerdings ist Rationalität in der Realität kompliziert. Entscheidungen orientieren sich nicht nur am finanziellen oder wenigstens quantitativ meßbarem Nutzen, sondern an vielen anderen Kriterien, die schwer zu greifen und noch schwerer zu modellieren sind – darunter auch Faktoren wie Gemeinwohl, Hilfsbereitschaft, oder Narzissmus oder Verantwortung (oder deren Vermeidung). Das aber läßt sich kaum messen, kaum modellieren und sieht schnell irrational aus, ohne es wirklich zu sein. In Ermangelung besserer und gleichermaßen handhabbarer Konzepte ist der rationale Mensch immer noch ein guter Ansatz – und die daraus abgeleiteten Begriffe und Theorien gar nicht so dumm und nachgerade alltagstauglich. Der Mensch ist keine Maschine und kein Computer, aber völlig irrational ist er – im statistischen Durchschnitt zumindest – auch nicht. Tausende Kaufentscheidungen im Internet illustrieren täglich, daß manche Menschen Suchkosten in Kauf nehmen, während andere lieber Geld ausgeben und Zeit sparen, zeigen, daß die meisten Bieter bei Auktionen erst auf die letzte Minute ihre Maximalgebot abgeben, und daß ähnliche Produkte sehr wohl verglichen werden. Die wenigen Idioten, die schon Tage vor Auktionsende den Preis in die Höhe treiben, oder keine Vergleichsseiten nutzen sind Ausnahmen – und bestätigen die Regel.