Der digitalen Gesellschaft fehlt es nicht an Vorturnern und Lobbyisten – sondern an überzeugenden Ideen, wie wir künftig leben wollen.
Stellen Sie sich vor, Sie stießen irgendwo im Internet über folgende Bekanntmachung:
Die Elektrifizierung schreitet voran, nicht nur Zahnbürsten, sondern auch Autos und sogar Fahrräder werden zunehmend mit Strom betrieben, und diese Prozesse verändern unsere Gesellschaft fundamental. Diese Dynamik erfordert auch politische Veränderungen – und die Initiative E 793 hat sich zum Ziel gesetzt, diese Entwicklung aktiv, konstruktiv und kreativ mitzugestalten- E 793 versteht sich als progressiver Think Tank, der über das reine Nachdenken hinaus auch politische Veränderungen erreichen will.(…) E 793 will auf diesem Wege zu einem Zentrum des elektrischen Fortschritts werden.
Da käme der eine oder andere geneigte Leser womöglich in Versuchung, sich an die Stirn zu tippen und zu denken „tock, tock, tock”. Aber dann ersetzt man E 793 durch D 64 und das Wortfeld „Elektrifizierung” einfach durch „Digitalisierung”, und schon stößt das Pathos dieser Absichtserklärung gleich viel weniger seltsam auf. Die Digitalisierung der Gesellschaft, ja, das ist natürlich ein Fernziel, das den Schweiß der Edlen lohnt. Dafür kann dieser neugegründete Digitalisten-Zirkel D 64 gar nicht genug verschiedene „Formate entwickeln”, die sowohl On- als auch Offline-Aktivitäten umfassen. Der Verein, zu dessen Gründern Mario Sixtus (Elektrischer Reporter), Heiko Hebig vom Spiegel Verlag und der Werbeexperte Nico Lumma gehören, versteht sich als SPD-nahe netzpolitische Beratungsinstanz. Mit im Boot sind aber nicht nur Aktivisten, sondern Wirtschaftsvertreter wie Sprecher von Google und Facebook sowie der Targeting-Experte Stephan Noller vom Werbedienstleister nugg.ad. Mitgründer Stephan Noller. “Wir wollen die Öffentlichkeit für digitale Themen interessieren und dabei weniger elitär sein als beispielsweise die Piraten”, ließ sich Noller gegenüber zeit online vernehmen.
Moment mal, die Öffentlichkeit für digitale Themen interessieren? Hatte sich das nicht vor einigen Monaten schon ein anderer Verein auf die Fahnen geschrieben? Da gab es doch die „Digitale Gesellschaft e.V” aus dem Umfeld des netzpolitik.org-Machers Markus Beckedahl. Wir erinnern uns: Beckedahl wollte mit seinem Lobbyverein nach eigenem Bekunden die Interessen der Internet-Nutzer effektiver als bisher in den netzpolitischen Debatten einbringen und eine „kampagnenorientierte Initiative für eine bürgerrechts- und verbraucherfreundliche Netzpolitik” ins Leben rufen.
Mit durchschlagenden Kampagnenideen ist Beckedahls NGO-Neugründung bisher jedenfalls nicht aufgefallen. Und wenn man in diesen Dezembertagen die Berichte zum Stand der Digitalisierung in Deutschland liest und hört, dominieren eindeutig die Moll-Tonarten. „Im Internet ist Deutschland nur Mittelmaß”, klagte etwa der FAZ-Netzökonom Holger Schmidt. Anlass zu dieser verhaltenen Zwischenbilanz lieferte die Anfang Dezember auf dem Münchner IT-Gipfel vorgestellte dritte Ausgabe der Studie „Die digitale Gesellschaft in Deutschland – Sechs Nutzertypen im Vergleich”. Nach wie vor könnten erst 38 Prozent der deutschen Bevölkerung als „Digital Souveräne” bezeichnet werden, heißt es da. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Mehrheit der Bevölkerung (62 Prozent) nach wie vor nicht Teil der digitalen Gesellschaft sei – und angesichts der marginalen Verschiebungen unter den Nutzertypen im Vergleich zum Vorjahr können die Forscher von TNS Infratest keinen anderen Schluss ziehen als dass die digitale Gesellschaft stagniere.
Das klingt natürlich höchst unerfreulich – solange man nicht anfängt, darüber nachzudenken, was genau diese ominöse digitale Gesellschaft eigentlich sein (oder genauer gesagt: werden) soll. Reicht es dazu aus, dass wir alle bei Facebook gelistet sind und unseren Giralverkehr nur noch per Onlinebanking abwickeln? Oder welche weitergehenden Voraussetzungen sind daran geknüpft? Um nochmal auf das eingangs konstruierte Analogon mit der Elektrifizierung zurückzukommen: So ziemlich jeder in unserer Gesellschaft, der nicht gerade obdachlos oder sonstwie verhindert ist, nutzt elektrischen Strom – und dennoch käme man nicht auf die Idee, unser Gemeinwesen mit dem Schlagwort der „Elektrischen Gesellschaft” zu bezeichnen.
Nun arbeiten bei D 64 laut Selbstdarstellung Menschen daran, mit den Möglichkeiten und Herausforderungen des Internets die Gesellschaft zu transformieren und Deutschland für die digitale Demokratie vorzubereiten. Wieder so ein tolles Schlagwort, bei dem man sich fragen muss, was uns damit verkauft werden soll: Reichen dazu schon Wahlcomputer und noch ein paar twitternde Hinterbänkler, oder was soll eine digitale Demokratie eigentlich sein?
Ansatzweise lässt sich bei der SPD programmatisch schon etwas erahnen. In einem Leitantrag, der auf dem Parteitag am 5. Dezember beschlossen wurde, heißt es in der Kurzfassung wörtlich: Die SPD will die sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität auch in der „digitalen Gesellschaft” verankern. Ohne gleiche Zugänge für alle, ohne gleiche Informationsmöglichkeiten, ohne die materiellen und technischen Voraussetzungen, ohne chancengleiche Bildung wird das Internet ein soziales Medium der Wenigen und nicht der Vielen sein. Die SPD will daher einen Hochgeschwindigkeitszugang für alle und Netzneutralität, also die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Datenpakete unabhängig von Inhalt, Dienst, Anwendung, Herkunft oder Ziel. Der Zugang zum Internet ist für uns ein demokratisches Bürgerrecht, deshalb wollen wir kurzfristig für flächendeckende Grundversorgung sorgen. (…) Das klingt alles schön und gut, ebenso die Absichtserklärung, die sozialen Sicherungssysteme auf bereits bestehenden und wachsenden Arbeitswelten im digitalen Raum auszudehnen und sich für gerechte Bezahlung und fairen Lohn für kreatives Schaffen einzusetzen und dergleichen mehr.
Aber was nun die digitale Gesellschaft konstituieren soll, außer dass dann noch mehr Menschen öfters ins Internet gehen, geht aus den ganzen schönen Sonntagsreden irgendwie nicht so recht hervor. So ähnlich lief das auch schon in der Debatte um Google-Streetview, als die Gegner des Verpixelung von Hausfassaden das Stichwort der „digitalen Öffentlichkeit” ins Spiel brachten – aber nicht so recht darzulegen vermochten, was genau das eigentlich sein sollte. Da verstieg sich der Netzaktivist Jens Best zu der Forderung: „Das ‚Verstehenkönnen‘ von Informationsarchitektur und das grundlegende Handwerk der Datenverknüpfung durch Programmierung, das Erstellen und Lesen von Geodaten-Mashups sind notwendige Fähigkeiten für den digitalen Bürger.” Aha. Wenn das in Digitalien tatsächlich Pflichtprogramm werden sollte, muss man sich nicht wundern, wenn so viele Bürger lieber in Analogopolis/ Outloggistan bleiben. Die naheliegendere und entscheidendere Schlüsselqualifikation für die digitale Gesellschaft liegt wohl eher darin, Browserzeile und Suchmaschineneingabefeld unterscheiden zu können. Solange es daran hapert, brauchen wir über Geodaten-Mashups als Bürgerpflicht gar nicht zu reden.