In diesem Jahr haben sich zwei Interessenvertretungen für netzpolitische Themen gegründet. Eine Lobby für das Internet, das klingt bislang glatt und abstrakt – weil man sich vor einfachen Begriffen scheut: Bildung, Arbeit, Ehrenamt.
Wie weit ist im öffentlichen Diskurs die Tatsache verankert, dass ohne digitale Medien und die Menschen, die mit ihnen arbeiten und darüber kommunizieren, unser Alltag heute deutlich anders aussähe? Damit meine ich nicht das Bild, das sich auf Gehwegen und in der U-Bahn bietet: abgehetzte Anzugträger schreien in ein Headset und Jugendliche verrenken sich ihre Finger beim Tweets tippen auf dem Smartphone. Hat die digitale Innovation tatsächlich auf die Fast-Forward-Taste gedrückt und sie dabei fest geklemmt? Die Entschleunigung – als hätten wir eine Wahl wie schnell eine Minute verrinnt – ist keine unerreichbare Sehnsucht. Kulturpessimisten müssten lediglich den Willen entwickeln, zu erlernen mit dem Risiko ständiger Verfügbarkeit und Informationsüberfluss durch Technologien bewusst umzugehen. Der Computer ist ein Raubtier, das sich gelassen domestizieren lässt. Sogar von Großstadtmenschen.
Die Digitalisierung hat, ähnlich wie Marco Settembrini di Novetre die „Elektrifizierung“ einordnet, vor allem Fortschritt und Arbeitserleichterung mit sich gebracht. Sie birgt Entspannung in der Freizeit, führt einsame Herzen zusammen und erhält menschliche Nähe über weite Distanzen. Digitaler Fortschritt frisst auch Arbeitsplätze, doch im gleichen Moment fordert er nicht Maschinen, sondern Menschen heraus und schafft neue Berufsbilder.
Die EU-Politikerin Neelie Kroes stellte am vergangenen Montag den Raubkopierer Karl Theodor zu Guttenberg als neuen europäischen Paten der Internetfreiheit vor. Was satirisch anmutet, meint die EU-Kommission ernst. Dass sie die Freiheit nun von jemandem schützen lassen will, der zuvor Netzsperren forderte, entwertet ihr Anliegen umgehend. Doch die Wahl von zu Guttenberg als Internetberater ist ein vergleichsweise kleiner Moment unter vielen größeren, in dem man erkennt, dass das Netz eine Lobby braucht. Denn hinter dem abstrakten Begriff “das Internet”, das als freier Raum bewahrt werden soll, steht mehr: dort steht Leben. Es sind die Menschen, die über digitale Technologien das organisieren, was sie antreibt, die über das Internet politisch aktiv sind, die damit ihr Geld verdienen, die eine gemeinschaftliche Interessenvertretung brauchen. Und noch mehr als die Nutzerinnen und Nutzer, die bereits online sind, brauchen diejenigen ein Sprachrohr, die von der Internetversorgung abgeschnitten sind und daraus Nachteile erhalten. Nur zwei Beispiele verdeutlichen, dass ein Grundrecht auf schnelles Internet nicht mehr in Frage gestellt werden kann, ohne dass soziale und ökonomische Benachteiligung durch die digitale Spaltung in Kauf genommen werden: Stellen Sie sich vor, wie die Suche nach Arbeit heute verliefe, wenn sie ausschließlich analog erfolgte. Und stellen Sie sich zudem vor, wie sich die Bildungsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern unterscheiden, wenn die eine Gruppe digitale Lernmittel nutzen kann und die andere nicht – und welche berufsvorbereitenden Konsequenzen es hat, bereits als Kind den Umgang mit Hardware und Software erlernen zu können, weil sie im Elternhaus oder in der Schule vorhanden sind.
Diese Alltagsbeispiele zeigen, dass die digitalisierte Welt kein Biotop für eine Bohème ist. Über die Zukunft einer Gesellschaft zu debattieren, in der Technologie eine immer größere Rolle spielt, ist kein Elitenthema. Die aktuellen netzpolitischen Diskussionen zeigen das jedoch in der Tat noch nicht, denn sie widmen sich häufig juristischen und technischen Problemstellungen, jüngst auch Fragen der politischen Partizipation. Doch über diesen engen Fokus bleibt eine wichtige Debatte begrenzt auf schmale Zirkel.
Wie wollen wir leben? Wie wollen und wie können wir künftig in einer zunehmend digitalisierten Welt leben? Fragen der Breitbandversorgung sind für diese Frage dabei wichtig, aber nur ein Detail. Die großen Themen, vor deren Komplexität die Debatten bislang zurückschrecken, sind Bildung, Arbeit und Gesundheit. Denn sie begleiten einen Menschen ein Leben lang.
Wer beruflich mit Politik zu tun hat oder eine Affinität für den von der Digitalisierung angestoßenen Wandel der Lebenswelt hat, stieß vielleicht in der vergangenen Woche auf eine Debatte in einer Enquete-Komission des Bundestages, die im Livestream übertragen wurde. Zum Thema „Veränderungsprozesse in der digitalen Wirtschafts- und Arbeitswelt“ hatte die Gruppe von Abgeordneten und Sachverständigen weitere Expertinnen und Experten eingeladen, um sich mit ihrem Wissen ein besseres Bild davon machen zu können, welche konkreten Herausforderungen in der Arbeitswelt auch von der Politik mit bearbeitet werden müssen.
Die Menschen, die dieses maßgeblich betrifft, sind im Bundestag und anderen Parlamenten unterrepräsentiert. Wenn das der Fall ist, bilden sich häufig Zusammenschlüsse um Stimmen zu sammeln, Positionen zu erarbeiten und diese lauter vertreten zu können. Dass Menschen sich immer seltener in großen Organisationen engagieren wollen – so werden gerne die schrumpfenden Parteien begründet – scheint jedoch nicht wahr zu sein; sie wollen es nur seltener in Parteien oder Gewerkschaften. Vielleicht sogar, weil man es hier schon versucht hat und gescheitert ist. Das Gefühl der „Digitalen Generation“ unzureichend gehört zu werden, ist dabei global. In den USA hat das Bündnis „Fight fort he Future“ zur Onlinekampagne „I work fort the internet“ aufgerufen. Die Aktivisten stellen sich damit gegen den „Online Piracy Act“, in dem seine Kritiker ähnlich wie bei der Netzsperrendebatte in Deutschland eine Weichenstellung für staatliche Zensur sehen. Anders als hierzulande ist das Hauptargument der Kampagne jedoch nicht die Freiheit des Netzes, sondern seine Macht als Wirtschaftsfakor:
“We work for the Internet. We know first-hand that the Internet powers the American dream. American innovators have built the world’s most popular sites, selling products and services to every corner of the globe, creating high-paying jobs from Maine to Hawaii. If Congress passes the Stop Online Piracy Act, America’s most promising engine of future jobs and opportunity will be put at risk. Don’t stop us now — we’re just getting started! Tell the world you work for the Internet.”
Eben diese bekommt in Deutschland aber nach wie vor zu wenig Aufmerksamkeit. Dazu empfiehlt es sich die Stellungnahme zur digitalen Gründungskultur von Heiko Hebig für die Sitzung der Enquete-Kommission zu lesen, der darin skizziert welche kulturellen und welche faktisch bürokratischen Hürden die Neugründungen von Unternehmen eher behindern, als befördern. Zudem wird der Gründungszuschuss zum 1. Januar 2012 gekürzt, aus einem Rechtsanspruch ist eine Ermessensleistung geworden, der Bezugszeitraum wurde verringert.
Das Internet als wachsender Marktplatz mehrt die Chancen auf selbstständiges und selbstbestimmtes Arbeiten. Über die Konditionen, unter denen das getan werden kann, müssen daher an neue Formen der Selbstständigkeit angepasst werden. Auch die neuen Arbeitsplätze und Berufsbilder der digitalen Welt brauchen mehr als ein anerkennendes Nicken für ihr Vorhandensein. Es stehen Fragen im Raum wie: “Wenn das Karriereziel eines Redakteurs der Chefredakteur ist, was ist das Karriereziel des Community Managers?” In welchem Gehaltssektor entstehen digitale Arbeitsplätze? Erfährt digitale Arbeit eine Entwertung gegenüber anderen Berufen? (Die Gehaltsschere zwischen Print- und Onlinejournalisten sei hier beispielhaft angeführt.) Wie viel müssen Freiberufler arbeiten, um davon leben zu können? Welche positiven und negativen Effekte haben flexible Arbeitsverhältnisse auf Zusammenleben und Familie? Nützen die “scharfen Zähne” des Arbeitsschutzgesetzes den Menschen in Branchen, in denen es als normal und Voraussetzung gilt, 80 Stunden in der Woche zu arbeiten?
Das große Thema, mit dem Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen in die Weihnachtspause geht, ist die “Volkskrankheit” Burnout. Vielleicht lohnt aber auch an dieser Stelle eine Entschleunigung, um zunächst andere Debatten zu führen, bevor man sich etwas widmet, das als Ergebnis einer kranken Arbeitswelt steht, schon vor Eintritt in die Berufswelt beginnt oder mitunter gar nichts mit der Arbeit zu tun hat.
Doch wie stößt man diese Debatten an? Beim Thema Burnout liegt es nahe: die Kosten drücken auf das Gesundheitssystem und Prominente schreiben Bücher über ihre Krankengeschichte. So umstritten Begriff und Krankheit auch sein mögen, die Lobby des Burnout funktioniert.
Herzensthemen brauchen Interessenvertretung. Auch wenn der Begriff Lobby in vielen Ohren gleich schmutzig klingt: selbst flauschige Kaninchen haben über den Tierschutzverein ihre eigenen Lobbyisten. Dieser arbeitet vermutlich effektiver für den Schutz von Tieren als die Tierschutzpartei. So wenig wie man von jedem einzelnen Abgeordneten verlangen kann zu wissen, wie viel Quadratmeter ein Meerschweinchen zum Wohlfühlen braucht, so wenig kann man von jedem Abgeordneten verlangen alle Chancen und Problemstellungen zu übersehen, die einer digitalisierten Welt entspringen. Seit wann ist voneinander lernen etwas Schlechtes? Gar etwas Politikfremdes?
Wenn sich nun wie in diesem Jahr Interessenvertretungen die “Digitale Gesellschaft e.V.” oder “D 64 – Zentrum für digitalen Fortschritt” gründen (>> Invasion der Erklärbären) um gemeinsam mit der Politik Antworten auf netzpolitische Fragen zu suchen, zeigt dies vor allem etwas hoch Erfreuliches: weder politisches Engagement noch das Ehrenamt haben sich mit der Digitalisierung in Bits aufgelöst.
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Zur Transparenz: Die Autorin ist Gründungsmitglied von D64 und engagiert sich dort wann immer der Haupt-, die Nebenberufe und das Leben es zu lassen.