Die traurige Geschichte stand nur sehr kurzzeitig online, aber so viel lässt sich noch rekonstruieren: In London wurde dieser Tage ein Teenager von seinen Eltern aus dem Haus geworfen, nachdem ihnen dämmerte, dass ihr Filius womöglich homosexuell ist. Und wie waren sie seinen Neigungen auf die Spur gekommen? Anhand von einschlägigen Partnersuche- und Dating-Anzeigen im Facebook-Profil des jungen Mannes.
Da könnte man natürlich einwenden: Je nun, das eigentliche Problem an der Geschichte ist doch nicht die mehr oder weniger gut gezielte Onlinewerbung – sondern das intolerante familiäre Umfeld des jungen Mannes. Aber es führt kein Weg dran vorbei: Das Unbehagen an der Online-Werbung wächst. Und zwar auch bei jenen, die beruflich mit ihr zu tun haben. Thomas Koch, lange Jahre Agenturinhaber und Deutschlands bekanntester Werbeplaner, bezeichnet sich als bekennenden Online-Addict – und ist zunehmend genervt: „Wie jeder andere Online-User rege ich mich auf über Websites, die mit Bannern zugemüllt sind, und über jedes Pre-Roll und Pop-Up, das sich meiner Online-Nutzung in den Weg stellt.” Ein schöner TV-Spot oder eine ansprechende Anzeige könne ihn gern zum Kauf verführen. „Aber Online-Werbung lässt mich kalt. Besonders dann, wenn ich mich ,ge- und re-targetet‘ fühle.”
Mit dieser Auffassung steht Koch in seiner Branche nicht allein. Das Retargeting, also das gezielte Mehrfachansprechen eines Users, der eine Anzeige angeklickt hat oder beim Ausfüllen eines Online-Formulars wieder ausgestiegen ist, wird noch viel zu oft nach der Holzhammer-Methode eingesetzt: „Einmal online nach Funktionswäsche geguckt, und schon ist das ganze Internet voller Radlerhosen – das ist kein Re-Targeting sondern Stalking”, sagt Lothar Prison, Chief Digital Officer beim Agentur-Netzwerk Zenith-Optimedia in Düsseldorf. Dabei könne man es auch schon mit heutigen Technologien schlauer anfangen. Wenn der User die Radlerhose nach drei Werbemitteln dieser Art immer noch nicht kauft, zeigt man ihm beim nächsten Mal vielleicht eine Trinkflasche oder einen Fahrradhelm.
Aber von so viel Intelligenz und Einfühlungsvermögen ist die ach so kontextsensitive und interessensgenau ausgesteuerte Online-Werbung vielerorts noch weit entfernt. Wie schon vor Jahresfrist berichtet, bekommt der Verfasser dieses Beitrags bisweilen immer noch Werbung für Singeportale und Dating-Seiten eingeblendet – und das auch dort, wo er seit Jahren die Information „verheiratet” im Mitgliederprofil stehen hat. Das Versprechen der nur noch auf echte Interessen des Users zielenden Werbung harrt also nach wie vor seiner Einlösung. Und selbst eine Datenkrake wie Facebook, der ja nachgerade ein Füllhorn an kommerziell vielversprechenden Eigenangaben von Mitgliedern zur Verfügung steht, landet (wenn überhaupt) oft eher Zufallstreffer. Thorsten Kleinz hat für das ZDF-Blog Hyperland kürzlich aufgelistet, was Facebook ihm als „Werbeanzeigen, die Ihnen vielleicht gefallen könnten” präsentierte. Sein ernüchtertes Fazit: „Der Deal war eigentlich: ich gebe Facebook meine Daten und dafür liefert mir das Ach-so-sozial-Netz die passende Werbung, punktgenau auf meine Bedürfnisse abgestimmt. Doch auf meinem Bildschirm geht der Deal nicht auf. Statt interessanter Werbung bekomme ich Einheitsbrei vorgesetzt. Und der ist von sagenhaft schlechter Qualität.”
Wie schon Ede Zimmermann immer zu sagen pflegte: Leider kein Einzelfall. Selbst der notorisch begeisterungsfähige Online-Ironikese Sascha Lobo warnt inzwischen davor, dass schlechte Web-Werbung die Demokratie gefährden könne. Das ist eine witzige Volte insofern, als Lobo vor ein paar Jahren mit der Gründung einer Werbevermarktungsfirma für Blogs reichlich Gelegenheiten gehabt hätte, zu zeigen, wie gute Internetwerbung aussehen könnte und funktioniert. Dezent werbekritische Einwände beantwortete der frischgebackene Firmengründer anno 2007 mit der Aufforderung, über die Werbeverdammung vielleicht mal im Rahmen eines Praktikums in Nordkorea nachzudenken. Was letztlich nichts anderes war als das alte „Dann geht doch rüber in die Ostzone”-Argument in neuerer Diktion.
Aber gut, dazulernen darf schließlich jeder. Und Lobos besinnlicher Aufsatz aus der Vorweihnachtszeit 2010 macht ja durchaus einige Punkte: „Bis heute gleicht SEO (Suchmaschinenoptimierung) öffentlichen Toiletten: Kaum jemand bezweifelt ihren Sinn, aber es ist nicht der Ort, wo man gern Geschäfte macht, außer in zweifelhaften Branchen.” Richtig auch die Diagnose des Teufelskreises, dass Banner immer nerviger auf aufmerksamkeitheischender werden, je weniger Leute überhaupt darauf klicken. Nicht zu reden von den Zumutungen durch Pop-Ups, Pop-Unders und die besonders perfiden Layer-Ads, die sich kaum weggklicken lassen. Kein Wunder, dass immer mehr Nutzer nur noch mit Pop-up- oder Werbeblockern im Netz unterwegs sind. Wie groß diese Dunkelziffer ist, darüber fehlt es an belastbaren Zahlen, aber konservativ geschätzt dürfte etwa die Hälfte der Internet-Nutzer mit Pop-up-Blocker unterwegs sein, und rund ein Drittel aller Surfer versucht, Werbung komplett auszublenden, also auch statische Banner und dergleichen.
Dass die Inhalteanbieter darüber alles andere als glücklich sind, liegt auf der Hand. Frank Patalong von „Spiegel Online” versuchte vor einiger Zeit (vermutlich vergeblich), der Lesergemeinde ein schlechtes Gewissen einzureden: „Es kann nicht sein, dass Web-Nutzer, die zum einen Qualität einfordern und billig Produziertes zurecht ablehnen, reflexhaft abwehrend auf Werbung reagieren.” Nun, das kann sehr wohl sein. Denn dieser Deal Inhalte gegen Werbebeachtung, von dem Patalong schrieb, ist von vielen Nutzern ja nicht mut- oder gar böswillig aufgekündigt worden. Vielmehr ist es irgendwann zur unumgänglichen Notwehrmaßnahme geworden, sich die immer aufdringlicher brüllenden Reklameformen vom Hals zu halten, die Layer-Ads und die Videos, die sofort losplärren, wenn man eine Seite aufruft. Sicher, es waren nicht „Spiegel Online” oder FAZ.NET, die mit Nerv-Reklame negativ aufgefallen sind. Und so mag man es bedauern, dass die dezenteren Werbeangebote auf diesen Seiten gewissermaßen in Sippenhaft genommen werden für den grassierenden Werbe-Overkill anderswo. Aber beim Fernsehen käme doch auch kein Werbeverantwortlicher oder Programm-Macher auf die Idee, jenen Zuschauern ein schlechtes Gewissen machen zu wollen, die zum Beginn des Werbeblocks Richtung Kühlschrank oder Toilette entschwinden. Bisschen Schwund ist eben immer, und die Differenz zwischen Programm-Einschaltquote und der durchschnittlichen Quote im Werbeblock ist im Tarif schon eingepreist.
Fernsehwerbung flimmert hierzulande seit über 50 Jahren über die Bildschirme, Anzeigen im Gedruckten kennt man schon sehr viel länger. Vielleicht muss das Internet als Werbeträger auch erst noch erwachsener werden, bis sich ein halbwegs stabiles Gleichgewicht des Schreckens zwischen dem Werbedruck der Anbieterseite und der Aufnahmebereitschaft der Rezipienten einpendelt. Vorige Woche hat die „PC-Welt” berichtet, dass der vielgenutzte Firefox-Werbeblocker Ad Block plus seit der Version 2.0 darauf eingestellt ist, unter Umständen Werbung von bestimmten Anbietern durchzulassen, wenn sie gewissen Anforderungen genügt. Die ersten Reaktionen darauf lassen den Schluss zu, dass der Add-on-Anbieter sich damit zwischen alle Stühle setzt – vor allem, wenn es stimmt, dass Website-Betreiber dafür zahlen sollen, dass Ad Blocker ihre Werbung durchlässt und nicht blockt. Nach Auffassung von Christian Sickendieck vom Blog F!XMBR ist damit der Reklame-Rubikon gewissermaßen überschritten, und für ihn ist das kleine und nützliche Zusatzprogramm zum Firefox damit zur Malware geworden, also einem Schadprogramm, welches das Gegenteil von dem tut, was es eigentlich sollte. Wobei diese fundamentalistische Auffassung längst nicht von allen geteilt wird, die sich in der Angelegenheit zu Wort melden. Für viele – wie zum Beispiel auch den Verfasser dieses Beitrags – ist es hingegen nicht zuletzt die Werbedosis und Penetranz, die das Gift macht. Werbung nervt? Not always, but always ultra.