Gibt es eine Bürgerpflicht, Inhalte ins Netz hochzuladen und sich digital darzustellen? Noch nicht, aber einige Vorturner versuchen, die Nutzer zu einer Ethik des Teilens zu bekehren.
Vor ein paar Wochen meldete ich mich nach längerer Funkstille bei einer früheren Redaktionskollegin. Irgendwann im Gespräch hub ich gerade an zu erzählen, dass Töchterlein jetzt zur Schule geht und ich das Rennradfahren als Ausgleichssport zur kopflastigen Schreibtätigkeit wiederentdeckt hätte. Da unterbrach sie mich sanft und sagte: „Ich bin im Bilde, ich lese ja schließlich Dein Blog.” Um dann entschuldigend zu ergänzen, sie sei was das angeht zugegebenermaßen „nur Schmarotzerin und nicht Wirtin”.
Nun wäre ich selber nicht im Traum auf die Idee gekommen, es so zu sehen. Aber dann lese ich bei Antje Schrupp einen Beitrag, der sich lang und breit über sogenannte „Internet-Schmarotzer” auslässt: Mitmenschen, die so dreist sind, Blogs und Facebook-Einträge von anderen zu lesen, selber aber nichts beisteuern. Und damit nicht genug: Manche von denen seien auch noch so arrogant und überheblich, sich den digitalen Selbstdarstellern und für-umme-ins-Netz-rein-Schreibern meilenweit überlegen zu fühlen. Und nein, das gehe laut Frau Schrupp ü-ber-haupt gar nicht. Vielmehr bräuchten wir „ein kulturelles Umdenken”, das unser Schmarotzertum (denn letztlich schnorrten wir doch alle irgendwo Inhalte aus dem Internet) zur Sprache bringe und reflektiere.
Brauchen wir das wirklich? Ich könnte es jetzt kurz machen und sagen: „Ich glaube nein, guten Abend!” Aber die Gelegenheit ist günstig, dem neu entstehenden Irrglauben entgegenzutreten, das Internet sei in all seiner Großartigkeit so eine Art Gottheit, der gegenüber wir armen Sünder und Inhalteschnorrer in einer Grundschuld oder gar in einem Erbsünden-Verhältnis stünden und nur durch gute Werke – etwa indem wir selbst ordentlich viel Zeugs reinschreiben ins Internet, das die anderen dann lesen und konsumieren können – in den Stand der Gnade gelangen können. Ganz so hoch hängt Frau Schrupp die Angelegenheit freilich nicht. Sie vergleicht das passive Internet-Lesen eher mit dem Nichtwechseln des Staubsaugerbeutels in einer Wohngemeinschaft. Gleichwohl reicht auch das völlig aus, um die Verweigerung eigener Contentproduktion als kritikwürdigen Unterlassungstatbestand zu ächten.
Dass es der Verfasserin übel aufstößt, wenn sich die Verweigerer auch noch für cleverer halten als diejenigen, die mit ihrem Input für mehr Leben im Netz sorgen, kann ich sogar noch ansatzweise nachvollziehen. Das neutralisiert sich jedoch mit der Tatsache, dass vielen Normalbürgern ohne ausgeprägten Netz-Darstellungsdrang das digitale Vorgeturne der selbsternannten Netz-Elite auf ihren ständig wechselnden Spielwiesen auch nicht zu knapp auf den Nerven herum trampelt. Im Kern haben wir es also mit einem Gruppenkonflikt der Sorte “Wir sind aber besser als Ihr” zu tun.
Damit könnte man es im Prinzip auch gut sein lassen, wäre die Schmarotzer-Kritik von Frau Schrupp nicht einer der vielen Versuche von Netz-Propheten, mit Umweg über eine Umwertung aller Werte eine netz- und informationsbasierte Pseudo-Moral zur neuen ethischen Richtschnur allen Handels hochzujubeln. Wir reden dann also nicht mehr über freiwillige (und sagen wir es rundheraus: nicht in allen Lebenslagen wirklich dringend benötigte) Selbstentblößung und Senfspende im Netz, sondern über einen eminent wichtigen Dienst an der Allgemeinheit. Die flammende Predigt, Datensparsamkeit und Zurückhalten von persönlichen Informationen seien mehr oder weniger Diebstahl an der Allgemeinheit, hören wir seit Jahr und Tag von den Web-Evangelisten, heißen sie nun Jeff Jarvis, Clay Shirky oder Kevin Kelly. Hierzulande hat sich der Blogger Michael Seemann daran versucht, mit seinem Vortrag „Das radikale Recht des anderen” eine Art Über-Ethik zu formulieren, die das Informationsinteresse des „Anderen” (gewissermaßen die figürlich-abstrakte Personifizierung einer wie auch immer gearteten Allgemeinheit) grundsätzlich über alle anderen Erwägungen stellt. Möge der Empfänger oder Abfrager allein entscheiden, was relevante Information ist oder nicht.
Wo das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung bleibt, wenn diese sogenannte Informations-Ethik Staatsdoktrin geworden ist, kann man sich ja mal fragen. Dabei muss ich an dieser Stelle fairerweise auch gestehen: Ich gebe ja gerne. Ich schreibe seit sieben Jahren ein privates Blog völlig frei von Gewinnerzielungsabsichten, freue mich über Kommentare und kommentiere auch anderswo fleißig; bei Facebook und Google plus bin ich zwar eher verhalten unterwegs, aber immerhin auffindbar. Aber ab dem Moment, wo man mir das als Pflichtprogramm aufdrücken will, auf sämtlichen Netzhochzeiten zu tanzen, hört der Spaß schlagartig auf.
Ich frage mich, wie naiv (oder tief drin im Enddarm von Facebook, Google & Co.) man sein muss, um die totalitären Tendenzen dieser Mach-Dich-nackig-das-ist-gut-für-die-Allgemeinheit-Ethik nicht zu sehen. Wenigstens traut sich der Internet-Skeptiker Evgeny Morozov, diesen sich abzeichnenden Trend zur „Tyrannei des Sozialen” klar beim Namen zu nennen. Nur, dass er dieses Phänomen zu sehr an Facebook festmacht und an dem Bemühen des Börsenneulings, seinen Mitgliedern das nahtlose Teilen von allem und jedem schmackhaft zu machen: „Wir wollen, dass alles sozial ist”, verkündete eine Facebook-Managerin unlängst auf Bloomberg TV. Das heißt, vom Filmegucken über das Musikhören und Bücherlesen und sogar bis hin zum Surfen und Online-Shoppen – alles soll mehr oder weniger öffentlich und kollaborativ ablaufen in Zukunft.
Freilich würde es dem Thema nicht ganz gerecht, die Geschäftsinteressen und Gewinnerzielungsabsichten des Geselligkeitsnetzwerkgiganten zu sehr mit den post-privaten Idealvorstellungen einer offeneren Gesellschaft gleichzusetzen, wie sie von Leuten wie Christian Heller und der datenschutzkritischen Spackeria propagiert werden. Aber es gibt da eine unbestreitbare Konvergenz der Interessen. Und mit Beiträgen wie dem oben zitierten von Frau Schrupp (Executive Summary: Wenn ich bei Facebook was reinschreibe hast Du das verdammt nochmal auch zu tun!) machen sich Netz-Propagandisten zu unbezahlten Lobbyisten der großen Datensauger. Oder um es etwas alarmistischer zu formulieren: Wo Seemann und Schrupp säen, wird Zuckerberg ernten.