Der moderne Mensch könnte leicht denken, daß alles notwendige Wissen abrufbereit im Internet ist – brauchen wir da noch Historiker, Musikwissenschaftler, oder Keltologen?
Früher saßen Studenten in der Bibliothek, weil dort das Wissen war, das sie brauchten. Heute sitzen viele in der Bibliothek, weil dort die Arbeitsplätze sind – das Wissen hingegen besteht aus 0en und 1en, in Fachaufsätzen, im Internet. Die gedruckten Heftversionen werden ungefähr so oft genutzt, wie ein Tablet-Benutzer zur Holzzeitung greift. Die Zeiten, in denen man nach einer Diskussion bei Tisch über irgendein triviales zeitgeschichtliches Detail oder unnützes Kuriosum zum Bücherregal ging, das Lexikon hervorzog und nachschlug, sind lange vorbei – heute greifen wir zum Smartphone und googeln – und das, bedauerlicherweise, allzuoft nicht erst nach Tisch, sondern bei Tisch. Historische Buchausgaben, Gemälde mit Detailausschnitten, geschichtliche Ereignisse – alles findet sich in dutzendfacher Aufbereitung im Internet und wenn demnächst erst alle Bücher digitalisiert sind, brauchen wir eigentlich nur noch eine Handvoll Geisteswissenschaftler für die Instandhaltung der Webseiten – oder? In Zeiten, in denen Produktivität und Effizienz das Maß aller Dinge sind, sollten wir mehr Techniker, Ingenieure und Naturwissenschaftler ausbilden – nicht brotlose Schöngeister.
Zugegebenermaßen wird an den großen Fragen der Menschheit in letzter Zeit vor allem mit naturwissenschaftlichen Methoden gearbeitet. Die Klimaerwärmung zum Beispiel. Der Effekt an sich ist weitgehend unbestritten – die Schuldfrage hingegen noch offen. Eine so komplexe Größe wie das Weltklima ist multikausal und welchen Einfluß die Industrialisierung westlicher Gesellschaften darauf hat, läßt sich vermutlich nicht absoluter Sicherheit sagen. Die anthropogenen Effekte selbst setzen sich ja zusammen aus Entwaldung, Verbrennung fossiler Rohstoffe und intensivierter Viehhaltung, sie wirken sich über diverse Treibhausgase auf die Atmosphäre aus, und die Konsequenzen sind vielfältig. Kein Computer dieser Welt kann die diversen Ursachen und Effekte sauber auseinanderrechnen und so kommt das Zentralorgan der Klimaforschung, das Intergovernmental Panel on Climate Change denn auch nur zu dem Ergebnis, daß ein menschlicher Beitrag zur Erderwärmung „sehr wahrscheinlich” ist.
Bedauerlicherweise haben auch einige der Hohepriester der Klimaforschung keine ganz weiße Weste mehr (nicht inhaltlich, wohl aber in Bezug auf das höfliche Miteinander unter Kollegen), was den Klimaskeptikern Argumentationsspielräume verschafft. Direkte, halbwegs verläßliche Temperaturmessungen existieren seit gerade einmal 150 Jahren, alle weiteren Informationen müssen also aus Fossilen, Eisbohrkernen und mittels anderer, indirekter Methoden gewonnen werden. Neben der Datenqualität stellt sich auch die Frage, ob nicht gelegentliche Schwankungen in Zyklen mehr oder weniger normal sind – und wie die Welt aussähe, wenn es noch ein paar Grad wärmer würde. Zugegebenermaßen sind Glaziologen, Geologen und andere Naturwissenschaftler mit entsprechenden technischen und quantitativen Fähigkeiten unabdingbar, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Historiker, Kunstgeschichtler und sogar Musikwissenschaftler können aber auch helfen.
Historische Aufzeichnungen zeigen deutlich, daß es auch früher Klimaschwankungen gab, namentlich die mittelalterliche Warmzeit von ca. 900 bis 1200 und die „kleine Eiszeit” vom 15. bis ins 19. Jahrhundert. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, daß diese ihr Ende mit der Industrialisierung der westlichen Hemisphäre fand. So nützlich Fossilien und Gletscherforschung dabei sind, die klimatologischen Bedingungen vergangener Jahrtausende festzustellen – auch historische Dokumente geben erstaunliche Aufschlüsse darüber, und über die Konsequenzen. In der Wärmezeit wurde in Preußen Wein und in Norwegen Getreide angebaut und Grönland macht seinem Namen Ehre und war grün. Und nicht nur das: Grönland war grün, also eisfrei, ebenso Teile der Nordmeere und dieser Umstand erlaubt es den Wikingern, ihre umfangreichen Schiffahrten zu unternehmen – die Welt war ein erstes Mal kleiner und ein wenig globalisierter geworden. Zugegebenermaßen können historische Aufzeichnungen nur begrenzt bei den Ursachen weiterhelfen, schon gar nicht bezüglich verstärkter Sonnenaktivität und dergleichen – aber über die Konsequenzen und die Bedingungen eben durchaus.
Gleiches gilt für die kleine Eiszeit. In der Toskana erfroren die Olivenbäume, in Nordeuropa verfaulte und erfror das Getreide auf dem Halm und die Menschen mußten hungern. Die Bevölkerung war gewachsen – zum Hunger kamen Seuchen und die sozialen Veränderungen folgten auf dem Fuß, bis hin zur französischen Revolution, die natürlich auch etwas mit dem Hunger der Bevölkerung zu tun hatte. Andererseits führte die Kälte zu Annehmlichkeiten, die heutige Museumsbesucher verblüffen: in Amsterdam und Hamburg konnte man auf den Kanäle bzw. der Alster regelmäßig Schlittschuhlaufen, in London gab es einen „Frostmarkt” auf der Themse. Alle diese Lustbarkeiten sind in hunderten von Bildern und Gemälden wohldokumentiert, mancher Maler gründete seine gesamte Reputation auf die Wintermalerei.
Selbst in der Musik finden sich Belege für dieses Phänomen. Vivaldis „Vier Jahreszeiten” sind vier Sonette vorangestellt, die der Musik programmatischen Charakter geben. Demgemäß illustriert der „Winter” einen Eisspaziergang und Schlittschuhläufer auf der zugefrorenen Lagune in Venedig. Auch wenn dies keine essentiellen Fakten für die klimageschichtliche Forschung sind, geben sie doch Aufschlüsse, und bestätigen Hypothesen aus einer gänzlich anderen Perspektive – also gute wissenschaftliche Forschungsmethode.
Davon abgesehen würde es unserer Gesellschaft vielleicht gar nicht schaden, sich rechtzeitig damit zu befassen, wie die Gesellschaft funktionierte bei wärmeren Temperaturen und aufgetauten Polarmeeren ebenso wie bei vermehrten Klimakatastrophen. Wie sich Transportzeiten änderten, und wirtschaftliche Bedingungen – möglich, daß solches Wissen in der Zukunft noch nützlich wird. Möglich, daß der Gott aus der Maschine uns dann nicht mehr weiterhelfen kann. Umstritten ist nämlich eigentlich nur der Anteil menschlichen Wirkens – die Erwärmung der letzten 100 Jahre hingegen ist eine Tatsache. Zeit also, sich mit den Konsequenzen zu befassen, sonstn müssen wir unsere Computer bald auf Pfahlbauten aufstellen.
Von solchen utilitaristischen Erwägungen pro Geisteswissenschaften kann man sich natürlich auch auf den vergeistigten Standpunkt stellen, Kunst, Kultur, und Geschichte seien Werte an sich. Weil sie Freude bereiten, eine Gesellschaft prägen, des Menschen Seele kathartisch läutern. Dies jemandem verständlich zu machen, der keine Freude an Kunst hat, an Läuterung oder an gesellschaftlichem Zusammenhalt, ist schwierig. Wer in Kategorien von Nützlichkeit denkt, demgegenüber man muß mit Nützlichkeit argumentieren. Siehe oben.