Mit der Hand zu schreiben kostet Zeit, ist mühsam und anstrengend – deshalb lassen wir es zunehmend. Möglicherweise zu Unrecht?
Das vielleicht vernünftigste, sinnvollste und langfristig wertvollste Geschenk meines Lebens bekam ich im Alter von fünfzehn Jahren, als meine Eltern mir einen Schreibmaschinenkurs an der Volkshochschule spendierten. Mehrere Wochen lang saß ich regelmäßig abends in einem Schulzimmer und tippte „asdf” und „jklö” mit einer elektrischen Maschine. Eine Emailadresse hatte der normale Bürger damals noch nicht, einen Computer ebensowenig, meine Eltern besaßen sogar noch eine mechanische Maschine, die auf herrlich antiquierte Art und Weise sowohl lauter als auch schwerer im Anschlag war.
Ich kann nicht behaupten, daß wir uns damals großartige Gedanken um die Zukunft des Schreibens gemacht, die Erfindung von Computern oder den Wandel der Kommunikation antizipiert hätten. Ich wollte Geld verdienen, durch das Tippen ergab sich ein Nebenjob – andere Gründe hatten wir nicht. Heute jedoch kann ich die Gelegenheiten nicht mehr zählen, bei denen ich dankbar für diese spezielle Fähigkeit bin – nicht nur bin ich schneller als andere mit dem Ein-Finger-Adler-Suchsystem, sondern ich kann auch blind tippen, und ich kann tippen, ohne zu denken. Eine beneidenswerte Fähigkeit in unseren Zeiten, ich jedoch beneide vergangene Zeiten um die Kultur der Handschrift.
Es ist kein Zufall, daß geschäftliche Post heutzutage weitgehend handschriftlich erledigt wird und selbst kurze Anschreiben auf dem Computer getippt werden. Andererseits sind private Briefe ohne Handschrift noch immer eine möglicherweise noch größere Unhöflichkeit. Tippen ist praktisch, weil leserlich. Schönschreiben ist persönlich, aber für den modernen Menschen zunehmend mühevoll. Wer ständig unter Zeidruck steht, Zeit ist Geld, Geld ist wichtig, Freizeit kostbar, hat im Alltag jedenfalls keine Zeit mehr, alle Buchstaben säuberlich miteinander zu verbinden und dekorative Schnörkel an Kapitalen anzufügen. Wer über eine halbwegs ebenmäßige und leserliche Handschrift verfügt, ist da schon zufrieden mit sich.
Noch liefern sich Eltern, Lehrer und Wissenschaftler leidenschaftliche Grabenkämpfe über Sinn und Unsinn von Druckschrift und Schreibschrift in Grundschulen, und der neueste Taschenspielertrick der Computerindustrie, bei dem man seine handschriftlichen Buchstaben einscannen und als Schriftart ins Schreibprogramm übernehmen kann, geht am Problem völlig vorbei.
Zumindest in der Ausbildungsphase junger Menschen führt kaum ein Weg an der Handschrift vorbei. Zwar stirbt die Mitschrift an der Universität aus („Vorlesung” ist ein völlig überholtes Wort in Zeiten des PPS-Vortrags mit gedruckten Skripten), dennoch wären Schul- und Ausbildungszeit ohne lange Aufsätze und Klausuren kaum denkbar – sehr zum Leiden des Lehrpersonals. Meine Großeltern mußten noch Schönschrift lernen, und das war vielleicht gar nicht verkehrt? Wer einmal über einer Klausur oder einem Aufsatz gesessen, und mühevoll versucht hat, Wörter zu entziffern um die Antworten bewerten zu können, weiß was ich meine. Eine übermäßig schlampige Handschrift ist geradezu eine Zumutung für die Korrektoren, und hat schon manchen Schüler und Studenten Punkte gekostet.
Auch bei Gruppenarbeiten und Geburtstagskarten wird immer noch automatisch nach der Person mit der schönsten Handschrift gerufen – denn eine schöne Handschrift ist irgendwie, nun ja, etwas Schönes, während man für unleserliche Schrift gerügt wird, und sich regelmäßig beschämt entschuldigt. Im persönlichen Miteinander bleibt die Handschrift zumindest als Zeichen der Wertschätzung – „ich habe mir Zeit genommen” – erhalten.
Im Alltag hingegen verschwindet die Handschrift zunehmend, parallel mit Briefen und papierhafter Korrespondenz. Für Einkaufszettel, kurze Notizen und die Unterschrift scheint es nun wirklich unnötig, Millionen Schüler durch die Qualen der Schönschrift zu prügeln, vor allem jene, denen es besonders schwer fällt, die eigenen Hände zu disziplinieren. Auch die Verfechter der Handschrift können jedoch gute Gründe ins Feld führen: ohne Handschriften verlieren wir den Zugang zu einem wesentlichen Teil unserer Geschichte. Wer selbst nicht schreiben kann, wird sich schwer damit tun, historische Texte und Dokumente zu entziffern. Handschriften sind auch schwerer zu fälschen und im Gegenzug leichter zuzuordnen: Unwahrscheinlich, daß zukünftige Generationen Autorenschaft anhand von Computerausdrucken oder digitalen Dokumenten werden bestimmen können. Nicht davon zu reden, daß sich ganze Wissenschaften mit dem Zusammenhang zwischen Schrift und Charakter beschäftigen.
Darüber hinaus gibt es zunehmend wissenschaftliche Anhaltspunkte dafür, daß man handschriftlich anders denkt. Es ist kein Zufall, daß viele kreativ-schaffende Berufe ihre ersten Ansätze immer noch in Skizzen auf Papier festhalten. Architekten, bildende Künstler, viele Schriftsteller, planen immer noch auf Papier, nicht auf Bildschirm. Auch stupide Tätigkeiten, wie das Auswendiglernen von Stichpunkten oder Verinnerlichen von Wissen fallen leichter, wenn man Dinge aufschreibt – jedenfalls scheint es den meisten Menschen so zu gehen.
Das rein motorische Vorgehen kann dafür nicht ursächlich sein, Tippen ist schließlich auch irgendwie motorisch – allerdings auf andere Art und Weise. Einen Buchstaben mit dem Stift aufs Papier zu bringen, erfordert Striche, Kreise, Bögen, Verbindungen und folglich auch mehr feinmotorisches Geschick als eine Taste anzuschlagen. Auch die Haptik macht vermutlich einen Unterschied: nicht umsonst haben Flugsimulatoren viel technisches Zubehör, um auch das Gefühl nachzubilden, nicht umsonst lernt man auf einem E-Piano nicht so Klavierspielen wie auf einem richtigen Instrument mit Hammermechanik.
Es ist also nicht überraschend, daß die Forschung in diesem Bereich meistens bestätigt, daß die Nutzung von Papier & Stift gegenüber Tastatur & Bildschirm zu schnelleren Lernfortschritten und besseren Erfolgen führt, egal ob es um Buchstaben lernen, Aufsätze schreiben, oder Dinge merken geht. Tatsächlich werden beim handschriftlichen Schreiben andere Gehirnregionen aktiviert als beim nur passiven Lernen. Irgendwie scheint sich das auch auf die komplexeren geistigen Vorgänge auszuwirken: schreiben involviert schließlich, Buchstaben zu Worten zu sammeln, Worte zu Sätzen, Sätze zu Texten und das gelang Kindern in diversen Studien besser, wenn sie handschriftlich arbeiteten als am Computer.
Das steht natürlich im Gegensatz zu den Erfahrungen im Alltag. Ich bezweifele, daß diese Beiträge bei handschriftlicher Konzeption an Qualität gewinnen würden – ich hätte nämlich schon längst frustriert aufgegeben, weil das Schreiben soviel länger dauert und nachträgliche Korrekturen aufwendiger sind. Unsere Generation hat allerdings den Vorteil, die Handschrift noch vernünftig gelernt zu haben, so daß wir für jede Aktivität das richtige Medium nach Belieben wählen können, und mit fortgeschrittenem Alter in beidem leidlich versiert sind.
Diese Wahlmöglichkeit sollten wir uns erhalten. Davon abgesehen: Was sollen unsere Nachfahren von uns denken, wenn die einzigen handschriftlichen Belege unserer Existenz Einkaufszettel und Post-its wären?