Nahrungsmittel sind in der heutigen Zeit nicht nur ein Produkt technologisch anspruchsvoller Prozesse, sondern auch aufgeladen mit moralischen und sozialen Bewertungen. Mit interessanten Folgen.
Der Mensch tut sich bekanntlich schwer, sich von der eigenen Realität zu lösen, außer wenn es um Technik geht. Ein Blick ins Science-Fiction Genre zeigt, daß schon die Generation meiner Eltern und Großeltern unendliches Vertrauen in den technischen Fortschritt hatte, bereits in den ersten Star-Trek Folgen wurde gebeamt und gelasert, künstliche Intelligenz, Mondflüge, Raumschiffe – nichts ist unmöglich. In anderen Dimensionen hingegen scheint unsere Phantasie erstaunlich begrenzt: Aliens haben meist grundlegende Ähnlichkeit mit Menschen – oder wenigstens mit ekligen Tieren oder Insekten, wir laufen auch in der Zukunft meist noch auf unseren zwei Beinen, und: wir essen.
Aus allerlei pragmatischen Gründen wird zwar gerade in der Raumfahrt so einiges konsumiert, was wirklich nur noch wenig Ähnlichkeit mit Essen hat, aber Essen als Genußmittel scheint auch aus der Zukunft kaum wegzudenken zu sein. Gleichzeitig hat sich die Nahrungsmittelproduktion durch den technischen Fortschritt grundlegend verändert. In deutschen Supermärkten ist das Sortiment an Tütensuppen, Tütennudeln, Brott- und Kuchenmischungen, mehrteiligen Joghurts und Milchprodukten und anderen seit der Ernte erheblich weiterverarbeiteten Lebensmitteln inzwischen meist deutlich größer als die Gemüse, Milch- und Fleischauswahl. In den USA hat man in manchen Supermärkten inwzischen Mühen, gänzlich unverarbeitete Lebensmittel zu finden, selbst Gemüse und Obst werden vorgewaschen, vorgeschält und abgepackt – wer noch ernsthaft kochen möchte, muß schon den „Whole Foods” Spezialsupermarkt aufsuchen (was ist eigentlich das Gegenteil von Whole Foods: Partial Foods etwa?)
Vermutlich allerdings haben wir weitgehend das Essen, das wir brauchen, und das Essen, das wir verdienen. In einer Zeit, in der viele Menschen immer größere Teile des Tages von ihrer Arbeit (oder ihrem Arbeitgeber) beansprucht werden, bleibt abends wenig Zeit, den Hefeteig für die Pizza selbst zu kneten, oder Gemüse für die Suppe zu schnippeln und pürieren – bei nur zwei Stunden freier Zeit fallen die fünf oder zehn Minuten dafür anders ins Gewicht, als noch in der Generation meiner Eltern. Für diese gesellschaftlichen Trends sind wir allerdings weitgehend selbst verantwortlich, und möglicherweise ändern sich die Zeiten ja bereits wieder – zumindest für Teile der Gesellschaft.
Immerhin gibt es inzwischen „Whole Foods” Supermärkte in den USA und Biosiegel und Hofläden in Deutschland, auch wenn es sich bei deren Konsumenten noch um eine Minderheit handelt. Eine allerdings, die sich oftmals einiges auf ihr umweltverträgliches Verhalten und Verantwortungsbewußtsein einbildet, nicht ohne einen Hauch Selbstgerechtigkeit. Diese spezielle Eigenschaft, die Kolumnisten schon länger aufs Korn nehmen (hier, oder hier), erfährt inzwischen zunehmend wissenschaftliche Bestätigung: was wir essen hat viel damit zu tun, wie wir die Welt sehen und uns verhalten.
Zugegeben: das ist keine ganz große Neuigkeit. Selbstverständlich würde man erwartetn, daß Menschen, die über ihre Ernährungsgewohnheiten nachgedacht haben, und bewußt mehr Geld für nachhaltig hergestellte Produkte ausgeben, prinzipiell auch länger über verantwortungsbewußtes Handeln in vielen Dimensionen nachgedacht haben, als der regelmäßige Burger-Kunde oder Tiefkühlpizza-Konsument. Weiterhin könnte man vermuten, daß sie aus diesem Verhalten die enstprechenden Konsequenzen ziehen und älteren Damen öfter über die Straße helfen, seltener versuchen, den Polizisten beim Geschwindigkeitsübertretungen zu bestechen (wenn sie denn überhaupt zu schnell fahren) und in der Straßenbahn nicht schwarzfahren.
Leider alles falsch. Weit gefehlt. Wissenschaftliche Experimente deuten eher auf das Gegenteil, jedenfalls wenn es um Bioprodukte geht. Es handelt sich – bemerkenswerterweise – um ein noch sehr junges Forschungsfeld: wie wirkt sich unsere Nahrung auf unser Verhalten und unsere Werte aus? Studien zeigen, daß wir Nutztieren, die regelmäßig auf dem Mittagstisch landen, deutlicher weniger persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten zuschreiben (wie zum Beispiel Schmerzempfinden oder Emotionen). Umgekehrt wird natürlich auch ein Schuh daraus: Tiere, die wir als Partner schätzen (wie Hunde oder Pferde), können wir uns nur schwer im Topf vorstellen. Während es hier schwer wäre zu zeigen, was Ursache und was Wirkung ist, und der Zusammenhang so offensichtlich, daß man den wissenschaftlichen Erkenntnismehrwert wohl hinterfragen könnte. Schon überraschender ist die Feststellung, daß Gerichte unsere Emotionen und unser Wohlbefinden unmittelbar verändern – und wie.
Hühnersuppe macht, daß Menschen sich weniger einsam fühlen. Schokolade macht glücklich. Süsses Essen macht uns hilfsbereiter. Und „organic food”, also Bioprodukte, machen weniger hilfsbereit. Am besten lassen sich solche Muster mit Laborexperimenten durchführen, wo das Zusammenwirken individueller Eigenschaften und Präferenzen mit Lebensumständen minimiert wird.
Zu diesem Zweck spannte ein amerikanischer Professor 62 seiner Studenten im Rahmen ihrer Prüfungsleistung ein. Im ersten Schritt wurden den Studenten Bilder von Lebensmitteln verschiedener Kategorien präsentiert, namentlich „normale Lebensmittel” (z.B. Senf), „Wohlfühlessen” (z.B. Eis) und „organic food” (z.B. Äpfel). Jeder Student erhielt nach Zufallsprinzip nur Bilder aus einer einzige Kategorie und sollte – als Alibimaßnahme, um das Studiendesign zu kaschieren – das Essen auch bewerten. Unmittelbar im Anschluß wurden die gleichen Studenten nach ihrem moralischen Urteil zu einer Reihe von Beispielfällen von Ladendiebstahl bis Inzest gefragt – angeblich für eine völlig andere Studie. Dabei sollten die Studenten das Verhalten auf einer Skala von 1-7, „nicht moralisch verwerflich” bis „moralisch sehr verwerflich”, bewerten.
Abschließend wurden sie außerdem gebeten anzugeben, ob und in welchem Umfang sie bereit wären, Zeit für eine andere Studie eines anderen Professors ohne Gegenleistung (also ohne Punkte, Noten) zu opfern. Dabei zeigte sich, daß jene Probanden, die Bilder von gesundem Essen gesehen hatten, die moralisch fragwürdigen Beispielfälle deutlich häufiger bzw. härter verurteilten – während es zwischen jenen die Bilder von neutralen oder angenehmen Lebensmitteln gesehen hatten, nur kleine Unterschiede gab, und beide Gruppen insgesamt Fehlverhalten großzügiger bewerteten. Weiterhin zeigte sich, daß die beiden Kontrollgruppe sich im Durchschnitt 20-25 Minuten Zeit für eine weitere Studie genommen hätte – die Betrachter von Bioproduktbildern hingegen nur 13 Minuten.
Nun sind 62 befragte und getestete Studenten nicht sehr viel, umso beeindruckender allerdings, daß die Ergebnisunterschiede zwischen den Gruppen statistisch signifikant, also vermutlich nicht völlig zufällig waren. Wie so oft bei dieser Sorte Studien, die physiologisch-neurolische Mechanismen mit soziologischen Aspekten verbinden, sagt das Ergebnis wenig über den Mechanismus aus – wir sehen Korrelationen, keine Kausalitäten. Vermutlich allerdings haben die Bewertung von Nahrungsmitteln, und moralische Bewertungen generell offenbar Berührungspunkte, die in dieser Studie zu Tage traten. Ohne Frage wird der Konsum von Bio-Lebensmitteln gesellschaftlich positiv bewertet, und im Einzelfall liegt der Konsumentscheidung möglicherweise eine klare, moralische Entscheidung zugrunde. Irgendwie scheint die bloße Tatsache, daß einige Probanden unmittelbar vorher mit der moralischen Dimension von Essen konfrontiert waren und darüber nachdenken sollten, bereits das Verhalten verändert zu haben. Die Moral anderer wurde wichtiger – daher die härteren Urteile über Fehlverhalten – die eigene Moral hingegen wurde bestätigt – daher die gesunkene Bereitschaft, hilfsbereit zu sein.
So schwammig die Schlußfolgerungen am Ende der Studie daherkommen: die Ergebnisse sind spannend, zumal es sich ja vermutlich eher um neurologische als physiologische Prozesse handeln muß (es wurde ja nichts gegessen – nur geguckt). Die Autoren befinden übrigens, daß die Hersteller von Bioprodukten in ihrer Werbung zurückhaltender sein sollen, damit wir keine Gesellschaft von moralisch intoleranten Egozentrikern werden. Ich hingegen frage mich, ob meine Großeltern in einer vergleichbaren Studie (gewöhnliches Obst gegen Schokolade) ähnlich reagiert hätten – oder ob wir nicht wieder einmal so liegen, wie wir uns gebettet haben.