Steuert die technische Fortentwicklung zwingend auf einen Punkt zu, der die Welt gewissermaßen aus den Angeln hebt? Oder bleibt die technologische Singularität ein frommer Wunsch der Geeks und Nerds?
Prognosen sind bekanntlich immer schwierig – vor allem solche, die sich auf die Zukunft beziehen. Das hat den menschlichen Geist aber noch nie davon abgehalten, sich auszumalen, was die kommenden Zeiten bringen mögen. In den späten 50ern oder frühen 60ern hatten Futurologen sich für unsere Jetztzeit atomgetriebene und fliegende Autos in gigantischen Häuserschluchten ausgemalt und glaskuppelüberdachte Megametroplen mit endlosen Laufbändern für den Fußgängerverkehr imaginiert. Und was stellen sich die Vordenker von heute für eine Welt von morgen vor?
Dazu müssen wir etwas weiter ausholen. Als relativ unstrittig darf gelten, dass sich der technologische Fortschritt in den vergangenen Jahrzehnten enorm beschleunigt hat. Es deutet auch nicht viel darauf hin, dass sich diese Prozesse in naher Zukunft nennenswert verlangsamen werden. Die Rechenleistung von Computern etwa steigt exponentiell an, und wenn man relativ gleichbleibende Leistungen des menschlichen Gehirns als gegeben voraussetzt, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Leistungen von Rechnern diejenigen des menschlichen Gehirns überflügeln. Auf diesem Weg steuert die Zivilisation nach Auffassung von Technikvordenkern wie Raymond Kurzweil auf eine Singularität zu – auf einen technischen Wandel, der „so schnell und allumfassend ist, dass er einen Bruch in der Struktur der Geschichte der Menschheit darstellt.” Wobei Kurzweil diese technologische Singularität nicht an dem Punkt erreicht sieht, an dem die Maschinen das menschliche Level an Intelligenz erreichen, sondern dann, wenn sie selber in der Lage sind, ihre Software und Ausstattung laufend zu verbessern und eigenständig weiterzuentwickeln.
Von einer solchen technologischen Singularität haben vor Kurzweil schon andere gesprochen und geschrieben. Die Vorstellung beschränkt sich auch nicht exklusiv auf Computertechnik. Als weitere potenzielle Treiber der Singularität gelten Nanotechnolgie, Gentechnik und Künstliche Intelligenz (KI), nicht zu vergessen auch neue Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, die in eine Richtung weisen, die mit dem Stichwort Transhumanismus grob umrissen wäre. Für Raymond Kurzweil, der sich unter anderem in den Bereichen optische Texterkennung und elektronische Spracherzeugung Meriten erworben hat, gilt es als ausgemachte Sache, dass Computer um das Jahr 2020 herum leistungsstark genug sein werden, um das menschliche Gehirn zu simulieren. Und 2029 werde das „reverse engineering” des menschlichen Gehirns vollendet sein, was uns die Software liefere, alle menschlichen Fähigkeiten inklusive der Steuerung des Bewegungsapparats technisch nachzuahmen. Und den Zeitpunkt der Singularität, ab dem sich superintelligente Maschinen dann selbsttätig verbessern und fortentwickeln, sieht Kurzweil um das Jahr 2045 herum gekommen.
Wie die Welt dann genau aussehen wird, darüber lässt sich schwerlich etwas genaueres sagen. Schließlich liegt es im Wesen einer Singularität, dass sie unsere bekannten Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzt und unser menschliches Verständnis überfordert. Entsprechend bleibt es persönliche Glaubenssache, ob man sich von diesem Entwicklungsschritt (so er denn kommt) überwiegend positive Effekte verspricht oder sich eher ernsthafte Sorgen um den Fortbestand der Menschheit macht. Gute Gründe für letztere Option gäbe es durchaus: Sind Maschinen erst mal intelligent geworden, könnte ihnen ja dämmern, dass sie ihre Umwelt in ihrem Sinne durchaus komfortabler gestalten könnten ohne die ständige Ressourcenkonkurrenz durch diese unterentwickelten Zweibeiner aus Kohlenwasserstoff. Oder vielleicht kommen die Maschinen auf den Trichter, uns zu versklaven und für ihr Wohlbefinden wullacken und rabotten zu lassen – also mehr das „Matrix”-Szenario als der Endkampf zwischen Mensch und Maschine wie in der „Terminator”-Filmreihe. Bill Joy, Mitgründer von Sun Microsystems, hat diese Sorgen schon vor über zehn Jahren in einem vielbeachteten „wired”-Aufsatz unter der Überschrift „Warum die Zukunft uns nicht braucht” artikuliert.
Dafür ist der kritische Computerexperte von Technik-Enthusiasten als Schwarzmaler und Maschinenstürmer im Geiste des 19. Jahrhunderts bezeichnet worden. Über Kritik sind freilich auch die Anhänger der Singularitätslehre nicht erhaben. Der Science-Fiction-Autor William Gibson („Neuromancer”-Trilogie) vergleicht die Vorstellung der technologischen Singularität gerne mit dem Endzeit-Glauben an die Entrückung der Gerechten nach der Wiederkunft Christi, wie sie der Brief des Apostels Paulus an die Thessaloniker in Aussicht stellt: „Denn dieses sagen wir euch im Worte des Herrn, daß wir, die Lebenden, die übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden. 16 Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christo werden zuerst auferstehen; 17 danach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein.” Diese Entrückung (im Englischen „rapture”) spielt in der endzeitlichen Vorstellungswelt christlich-fundamentalistischer Milieus in den USA eine sehr große Rolle, und mit dem Stichwort „Geek Rapture” klebt Gibson der Vorstellung von der Singularität ein quasi-religiöses Label auf.
Die Nähe der Singularitäts-Idee zu Vorstellungen der christlichen Lehren von den letzten Dingen und der Vollendung der Welt ist laut wikipedia auch dem Schriftsteller Ken McLeod aufgefallen. Aber zu den letzten Dingen, über welche die Eschatologie sich ihre Gedanken und Vorstellungen macht, gehört ja nicht allein die Entrückung, sondern auch die Apokalypse, das finale Desaster nach dem Brechen der sieben Siegel. Anders gewendet: Auch viele Warner vor den unkalkulierbaren Folgen der Singularität bedienen quasi-religiöse Vorstellungen. Somit wiederholt sich in dieser Debatte ein Muster, dass der Essayist Hans Magnus Enzensberger schon im Diskurs um die Digitalisierung diagnostiziert hat: „Die beiden Fraktionen folgen einem vertrauten religionsgeschichtlichen Muster: Auf der einen Seite finden wir die Apokalyptiker, auf der andern die Evangelisten. In mehr als einer Hinsicht hat ja der technische Fortschritt die Nachfolge der Offenbarungsreligionen angetreten. Heil und Unheil, Segen und Fluch lesen die Auguren seit der Aufklärung nicht mehr in den Heiligen Schriften, sondern aus den Eingeweiden der technischen Zivilisation. Beiden Verkündigungen ist ein sonderbar befriedigter, um nicht zu sagen triumphierender Unterton gemeinsam.”