“Uns kann nichts mehr passieren”, sagt Piraten-Bundesgeschäftsführer Johannes Ponader Pommes essend im Piratenbus. “Wir können machen, was wir wollen”, fügt er hinzu. “Wir kommen rein.”
Ein Satz für die Geschichtsbücher, getätigt vom frisch gewählten Vorstand der Piraten nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen, in Bezug auf den Bundestag. Das waren noch Zeiten für die Piraten, sie stürmten Parlamente, und die Umfragen sahen sie teilweise vor den Grünen: Was wir wollen. Ein Satz, der in seiner Selbstverständlichkeit bekannt klingt. Ähnlich äusserten sich auch führende Mitarbeiter von StudiVZ, als das Portal Deutschlands Schwergewicht in allen Untersuchungen war: Eine der grössten Seiten der Welt, jeder musste dabei sein, der ganz grosse Wurf von Holtzbrinck, die Nutzer rannten ihnen die Tür ein, sie konnten machen, was sie wollten, ihnen konnte nichts mehr passieren.
Nun, da die Piraten wieder von ihrem Umfragehoch auf 9% abgestürzt sind und damit, schneller als die FDP „Mövenpick“ sagen konnte, rund ein Drittel ihrer Wahlanhänger verloren haben, und StudiVZ nicht mal mehr ein Schatten der einstigen Grösse ist, und keine Zukunft mehr hat – in Zeiten wie diesen ist es vielleicht doch nicht ganz falsch, sich zu überlegen, ob es nicht doch vielleicht etwas gibt, was man im Internet tun kann, damit etwas wenig Erfreuliches passiert. Allein, es ist wie immer: Der Erfolg hat viele Väter, und die Analyse des Versagens mag man nicht gerne vornehmen. Dabei könnten die Piraten, die vor Berlin liegen und die Pest des Niedergangs an Bord haben, so einiges von den Kadavern lernen, die nebenan auf dem Wrack des 85 Millionen teuren, Holtzbrinck’schen Luxusliners StudiVZ aufgequollen die maroden Decks zieren.
Grob gesagt, gibt es drei Arten der Modelle, die in der Gesellschaft des Internet funktionieren. Nutzer besuchen Angebote, die sie aus welchen Gründen auch immer mögen. Etwas, das ihnen sympathisch ist, Freude macht, gefällt, zusagt, mit dem sie positive Gefühle verbinden. Das kann ein Blog sein, eine kluge Nachrichtenseite, eine nette Community wie Pinterest, etwas, das ihnen Halt, Vergnügen und Bestätigung gibt. Und sie besuchen die Seiten, die unverzichtbar sind: Email, Suchmaschinen, kommerzielle Angebote, Medien, Infodienste, P0rneaux, Downloadplattformen. Ganz kann man beide Bedürfnisse nicht trennen, aber gegenüber einer freundlichen Community ist das Verhältnis ein anderes, als zu einem Regenradar oder einem in Kasachstan sitzenden Nichteigentümer eines kopierten Filmes.
Und dann gibt es noch die Angebote, die man als unverzichtbar und sympathisch erachtet – die Sonntagskinder des Internets. Das ist natürlich für die Anbieter prima. Ideal wird es, wenn es dazu dann auch weit und breit keine vernünftige Alternative gibt. StudiVZ und die Piraten waren auf ihren jeweiligen Feldern für die Nutzer alternativlos. Alle Kommilitonen redeten nur noch über das VZ miteinander, wer nicht über 1000 Freunde hatte, war arm dran, wer seine Kontakte behalten und dort gehätschelt werden wollte, musste dabei sein, und zwar am besten 24 Stunden am Tag. StudiVZ war eine Sucht und für jene, die darin Probleme sahen – der Autor war einer davon – eine scheinbar unausrottbare Seuche. Mit einer vergleichbaren Haltung begegnen parteipolitische Gegner jetzt den Piraten: Da ist etwas, das frisch, unkonventionell, neu, nicht verknöchert ist und jeden einlädt, sich zu beteiligen. Wenn die alten Parteien vielleicht am ehesten einem Medienkonzern entsprechen, der nicht begreift, dass man die Leser im Internet heute einbinden und für sie da sein muss, und die Zeiten des Abos von der Wiege bis zur Bare vorbei sind, dann gleichen die Piraten eher StudiVZ. Scheinbar keine Hierarchie, keine Zwänge, jeder ist dabei, es läuft bestens, jeder kann mit jedem, alle machen ihr Ding, in AGs, SGs, Liquid Feedback, Twitter: Die Generation StudiVZ setzt jetzt parteipolitisch um, was sie dort gelernt hat.
Und so sinnlos panisch, wie manche Medien dann auf den Aufstieg von StudiVZ mit Communities, Bilderdiensten, Kommentaren, Karrierenetzwerken und Nutzerseiten reagierten, reagieren auch die alten Parteien auf Piraten. Plötzlich wird wieder von Basisdemokratie gesprochen, von Teilhabe, von Öffnung, ein Seehofer macht eine Facebookparty und die SPD stellt jemanden ein, der das alles analysieren und Konzepte dagegen entwickeln soll. Eventuell aber ist das alles überflüssig, denn die Piraten sind gerade dabei, zumindest einen Aspekt ihres Erfolgsmodells zu verlieren: So richtig sympathisch sind die Ereignisse und Skandälchen der letzten Wochen nicht mehr. Vom Abservieren einiger Presseleute über twitternde Ignoranz in den Talkshows bis zu den nicht enden wollenden Querelen im Berliner Landesverband, dessen zentrale Blase Öffentlichkeit so versteht, dass der Schriftverkehr zeitnah an befreundete Journalisten durchgestochen wird, um Gegner zu schädigen, zieht sich eine lange Kette wenig erbaulicher und in aller Offenheit ausgetragener Ereignisse. Das jedoch, wofür man Politiker wählt, lässt man, da man es sich leisten kann, deutlich vermissen: Die sinnvolle Politik.
Bei StudiVZ war es ähnlich. Dort stellte man sich vor allem die Frage, wie man von den Nutzern weiter kommt. Entsprechend dürftig war das Communitymanagement. Wirklich wichtig und von öffentlichen Querelen begleitet schien nur das Ausarbeiten neuer Datenschutzbestimmungen, um die Nutzer besser durch Werbung verwertbar zu machen. So, wie es bei den Konflikten unter den führenden Personen innerhalb der Piraten um Macht, Einfluss und die beste Ausgangslage im Rennen um die Bundestagssitze geht, standen bei StudiVZ auch die Interessen der Besitzer und des Managements im Vordergrund. Qualifikation und Kompetenz spielte keine Rolle. Ob der Bereich Presse im Piratenvorstand nun mit Markus Barenhoff bei jemandem endet, der thematisch damit keinerlei Erfahrung hat, oder irgendwelche Manager für StudiVZ von aussen kamen, durchregierten und dann wieder gefeuert wurden: Egal. Man konnte es sich ja leisten. Es gab keine Alternative, Funktionalitäten wurden nicht erweitert, Bugs und gravierende Sicherheitslücken wurden ignoriert. Bei StudiVZ kulminierte diese Haltung in der Drohung, man werde jeden, der die neuen Datenschutzbestimmungen nicht akzeptiere, sperren. Bei manchen bekannten Piraten aus Berlin verlautet, man werde die bislang kaum funktionale Software Liquid Feedback so oder so zum zentralen Ort der Entscheidung machen, egal ob andere Einwände gegen Befürworter wie den Beisitzer Klaus Peukert, oder die Berliner Abgeordneten Martin Delius und Alexander Morlang haben, die in Zukunft oder Vergangenheit für die Software verantwortlich zeichnen. Um vor dem Hintergrund dauernder menschlicher Querelen im Management einen Status des Permanent Beta und Probleme negierenden Support zu ertragen, muss man einen Dienst sehr lieben und brauchen.
Letzte Woche hatten die Piraten es dann erkennbar zu weit getrieben: Zwei Journalistinnen, die bei Spiegel Online und der Süddeutschen Zeitung bis dahin Beiträge über die Piraten in einer Art geschrieben hatten, die man sonst allenfalls von Autoblogs, Anlegermagazinen und dem Bayernkurier über die CSU kennt, betonten bei Twitter, sie seien gegenüber der Partei unabhängig – das sahen sie offensichtlich als notwendig an. Auch StudiVZ war es nicht zuträglich, dass irgendwann der Reiz des Neuen in den Medien verflogen war, und die Medien wieder kritischer berichteten. Derweilen versuchten Peukert und seine Vorstandskollegin Julia Schramm einen Scherzbeschluss im Vorstand herbeizuführen, dessen Unterstützer es offensichtlich nicht sehr mit ernsthafter Parteiarbeit haben. Man kann tun, was man will. Ungerührt machte der Geschäftsführer Johannes Ponader dann das nächste Fass des innerparteilichen Streits auf: Die unabhängigen Landesverbände sollten doch bitte wegen der Genderdebatte, die innerhalb der Piraten von einem Berliner Kreis namens „Kegelclub“ mit Klagen über den Sexismus bei den Piraten am Kochen gehalten wird, alle ersten Listenplätze für die Bundestagswahl für Frauen reservieren. Die Nutzer, und vor allem seine Leser sollten das bitte so per Liquid Feedback abstimmen. Ponaders Vorgängerin Marina Weisband verstand ihr Amt noch erfolgreich als Vertreterin der Piraten nach Aussen. Das klang intelligent und nachvollziehbar, und brachte die Partei in der Wählergunst nach vorne. Der ein bedingungsloses Grundeinkommen fordernde Hartz-IV-Empfänger Ponader, dessen nackte Füsse das Gesicht der Piratenkrise wurden, benutzt dagegen das Amt, um innerhalb der Partei Standpunkte einzelner Interessensgruppen zu fördern, die nur noch begrenzt jenen Zielen einer digitalen Bürgerrechtspartei entsprechen, mit denen die Piraten gross wurden.
Von Sachpolitik wird dagegen gern gesprochen, sie findet auch in den Ländern statt, aber das kommt öffentlich nicht mehr durch – das öffentliche Bild dominieren die Probleme, die in den Besonderheiten und Animositäten der Berliner Piraten ihren Ursprung haben. Bei StudiVZ haben eine Reihe von ungelösten Problemen und Querelen dazu geführt, dass das Portal nicht mehr geschätzt, sondern nur mangels Alternativen benutzt wurde – irgendwann kam Facebook, hatte mehr Möglichkeiten und internationale Nutzer. Diejenigen, die glaubten, ohne das VZ nicht mehr leben zu können, flohen in Scharen zu Facebook. Die Piraten haben noch keine echte Konkurrenz, aber die anderen Parteien lernen schnell dazu. Ob die individuellen Feinheiten des auch bei Twitter ausgetragenen Geklüngels, in dem Posten bei den Piraten vergeben werden, die Wähler mehr überzeugen als der Streit anderen Partei, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Spätestens seit Ponaders Vorstoss, der in Berlin zugunsten einer Kollegin im Vorstand gewertet werden kann, tobt der Kampf um die Fleischtöpfe der Bundestagsdiäten.
Demnächst sicher auch wieder auf Twitter, wenn man den Kollegen schaden kann. Man kann tun, was man will.