“The goal of the future is full unemployment, so we can play.”
Der technische Fortschritt hat die Arbeitslast nicht reduziert, Gleichstellungspolitik lediglich dazu beigetragen, dass Frauen nun ebenso viel Zeit für Erwerbsarbeit aufbringen müssen, wie Männer. Schon Studenten brennen aus. Das Schlagwort Vereinbarkeit ist dabei zu einem Synonym für Verzicht geworden: Selbstbestimmung, Sinn und Gesundheit führen wir willig zur Opferbank.
In Fragen der Vereinbarkeit von Beruf, Freizeit und all dem, das in den eigenen vier Wänden und im aufblühenden Garten getan werden muss, ist die Eurokrise schon lange über die Klippe gesprungen. Die Zeit, die man aufwenden müsste um zu verstehen, was der Fiskalpakt im Detail bedeutet, ob er nur annähernd einen Pfad aus der Krise einschlägt oder man sich als Bürger über den blanken Tisch gezogen fühlen muss, kann kaum jemand aufbringen. Vielleicht wenn die Jüngsten in ihrer Kitagruppe das europäische Finanzgeschehen spielerisch in einem Lied aufarbeiten müssten – die arbeitslosen Akademiker hätten derweil im Rahmen eines Aktionsplans für den Ausbau der Kinderbetreuung zum Erzieher umgeschult – dann könnten die Kleinen den Rettungsschirm singend erklären, während die Eltern Gräserpollen von den Tischen wischen und frisch geschlachtete, glückliche Hühner zum Abendessen servieren. Hoffentlich haben die Kinder einen Kitaplatz und lernen es dort. Ansonsten bleibt die Aufgabe, den Fiskalpakt zu vertonen und einen fröhlichen Refrain auf ihn zu dichten, auf den Schreibtischen ohnehin erschlagener Erwachsener liegen, die ihren Kopf auf den Berg der Steuerformulares sinken lassen. Hat sich selbst nach zweiundvierzig Besuchen in verschiedenen Kinderläden und liebevoll ausgefüllten Bewerbungsbögen noch immer kein Betreuungsplatz für den Sprössling gefunden, bekommen Eltern, die ihr Kind im heimischen Wohnzimmer die Bauklötze werfen lassen, bald immerhin 100 Euro. Doch all die Espressi, die man für diesen Betrag trinken kann, wirken schon lange nicht mehr.
Die Herausforderung nicht nur Kinder, die Katze, Erwerbsarbeit und unbezahlte Hausarbeit, sondern ebenso Sport gegen den Leibesumfang und für ein gesundes Herz, das Pflegen von Freundschaften und vielleicht der eigenen Eltern, ein Ehrenamt für den Naturschutz oder sogar in einer Partei, zu guter Letzt auch noch ein grobes Verständnis für die Tagespolitik und einen Blick in Feuilleton miteinander zu vereinbaren, ist eine Angelegenheit für fortgeschrittenen Rastlose. Manche Menschen versuchen dieses Kunststück tatsächlich, selbst wenn Ihnen als Leser schon nach dieser Auflistung die Puste ausgegangen ist.
Die kollektiven Erschöpfungsanzeichen und Depressionen in Folge eines Lebenswandels, der keine Pausen mehr zulässt und zu wenige Momente für Freude und Freundschaft gewährt, ergreifen nicht nur Eltern und andere Workaholics. Bereits die Körper und Seelen von Schülerinnen, Studenten und jungen Menschen, die müde, aber glücklich ihren ersten befristeten Arbeitsvertrag in der Hand halten, verweigern sich. Aus Lernen und Persönlichkeitsbildung ist Verausgabung und Anpassung geworden. Irritiert schaut eine junge Generation auf Politik, die von Vereinbarkeit von Beruf und Familie redet und zusätzlich das Plastikwort “Zeitsouveränität” in den Ring wirft. Denn weit bevor die eigene Familie ein Thema sein könnte, müssen junge Frauen und Männer ganz andere Dinge zusammenbringen. Zwar haben die Universitätsbibliotheken den Ruf ein Flirttempel zu sein, wie man neben dem selbstfinanzierten Bachelor-Studium jedoch noch Zeit für andere Menschen haben soll, bleibt fraglich. Wer nach dem Studium in einer Werbeagentur unterkommt, lernt vielleicht dort jemanden kennen und die Zeit reicht für sporadischen Sex. Diejenigen, die es geschafft haben neben dem Beruf eine Beziehung aufrecht zu erhalten, grübeln über die Vereinbarkeit von Karriere und Familienplanung. Die meisten Abende sind sie selbst für Kuschelsex zu müde oder die Männer fühlen sich unwohl und fett, weil für den Waldlauf keine Zeit mehr übrig ist. Wer eine Fernbeziehung führt, muss Glück mit dem Eisprung haben. Stress, Whisky und Kettenrauchen schlagen auf die Spermienqualität. Wer Antidepressiva nimmt, bekommt eh keinen mehr hoch. Um zudem als Frau in einem befristeten Arbeitsverhältnis schwanger werden zu wollen, muss man mit viel Zuversicht oder einem gut situierten Partner ausgestattet sein. Denn in diesem Falle greift kein Kündigungsschutz; endet der befristete Arbeitsvertrag, wenn eine Frau im fünften Monat schwanger ist, dann endet er eben.
Wer nicht über zu viel Arbeit klagt, hat sich in die Erschöpfung gelangweilt. Das lässt jedoch ebenso wenig Kraft dafür übrig, das Leben außerhalb des Arbeitsplatzes sinngebend zu verbringen. “More and more people in this country no longer make or do anything tangible; if your job wasn’t performed by a cat or a boa constrictor in a Richard Scarry book I’m not sure I believe it’s necessary. I can’t help but wonder whether all this histrionic exhaustion isn’t a way of covering up the fact that most of what we do doesn’t matter”, schreibt der Autor Tim Kreider in seinem Aufsatz “The ‚Busy’-Trap” in einem Blog der New York Times. Kreider glaubt, die “theatralische Erschöpfung” wäre vorgeschoben um zu verdecken, dass all das, was man beruflich tut, nicht von Belang ist. Vielleicht rührt aber diese Erschöpfung genau daher, da Arbeit, die in keiner Weise befriedigend ist und dem Menschen nicht mehr zurückgibt als Geld, den Geist verhungern lässt. Man verblödet über die Jahre. Gäbe es die wirtschaftliche Notwendigkeit nicht, würden sich wohl sehr viel mehr Eltern der Kindererziehung widmen, als letzte Möglichkeit, jeden Tag Wissen weiterzugeben, etwas dazu zu lernen und Liebe dafür zurück zu bekommen. Mir fallen nicht viele Menschen um die 30 in meinem Bekanntenkreis ein, die nicht von ihrer Arbeit entfremdet sind, die nicht darum wissen, wie leicht sie zu ersetzen sind, die gerne etwas anderes tun würden und im nächsten Job die gleiche Geringschätzung, Unterforderung und Perspektivlosigkeit erleben. Die anderen erzählen wie gedopt und atemlos davon, wie sehr sie in ihrer Arbeit aufgehen. Meist erscheint das wie ein psychologischer Trick, der sie überlistet hat, damit sie selbst nicht merken, dass sie nie in Worte fassen könnten, warum ihre Arbeit für sie selbst und andere einen Unterschied macht. Denn sie tut es nicht. Im Idealfall nimmt man einem Mensch nicht seine Persönlichkeit und den zentralen Sinn seines Lebens, wenn er seine Erwerbsarbeit verliert.
Die Debatten und Forderungen nach Rahmenbedingungen, die eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie erlauben, haben geschlechterpolitisch etwas bewegt. Dabei haben sie jedoch nur bewirkt, dass sich die Arbeitslast der Geschlechter in der Berufswelt angenähert hat. Wie der Begriff der Gleichstellung schon im Namen trägt: Frauen und Männern darf es im Zweifel auch gleich schlecht gehen. Beiden fehlt nun die Zeit, ihre Vorstellungskraft auf die Frage zu verwenden, wie die Zukunft der Arbeit aussehen könnte. Wie sie eigentlich arbeiten wollen. Die Politikprofessorin Linda Zerilli beschreibt die Blindheit für die eigene Situation in ihrem Buch “Feminismus und der Abgrund der Freiheit” wie folgt: “Der Zwangscharakter gesellschaftlicher Normen und Regeln kann uns dazu führen, unsere sozialen Arrangements als notwendig zu betrachten, während uns das unbewusste Wesen dieses Zwanges dazu bringen kann, sie als frei wählbar anzusehen.”
Den fehlenden Zweifel daran, dass man auf eine Art und Weise arbeiten muss um Lebenstauglichkeit zu beweisen, dabei aber in Wahrheit kein Leben mehr übrig bleibt, sondern nur noch ein müdes Existieren, bringt die Autorin Laurie Penny auf den Punkt: “Im zeitgenössischen Pseudo-Feminismus dreht sich alles um die Kraft des »Ja«.” Ein “Ja”, das sich kritiklos in den Rachen der Leistungsgesellschaft wirft. Ja, wir wollen die 60-Stunden-Woche und Wochenendarbeit noch dazu. Ja, wir wollen die ersten E-Mails unter der Dusche beantworten, die Haare praktisch kurz und beige Hosenanzüge tragen. Ja, wir wollen unsere Eizellen einfrieren und ein Kind mit 45. Ja, wir wollen eine Kita, die bis 24 Uhr geöffnet hat und eine Fernbeziehung, die uns Freiraum gibt. Ja, wir wollen ein Jahr lang Betreuungsgeld, solange es die Hartz-IV-Empfängerin nicht bekommt. Ja, denn damit bezahlen wir die polnische Putzfrau, die auf dem Küchenboden kniend so reizend melancholisch schaut. Ja, auch die Rente mit 72 finden wir klasse, denn mit einem Burnout im Studentenalter ist es hoch wahrscheinlich, dass wir diesen Zeitpunkt gar nicht mehr erleben.
Der Rhythmus dieser Akzeptanzreden schaukelt die Ja-Sager sanft in einen dämmrigen Geisteszustand, der nur durch ein beherztes Nein aufgeschreckt werden kann. Der Ekel vor den anderen ist dabei Selbstschutz. Gepolstert in Arroganz und Abwertung anderer Lebensmodelle schonen sich die Anhänger der bedingungslosen Ausbeutung davor, einmal tiefgreifender an den Verträgen, die sie unterschrieben haben, zu zweifeln. Obwohl ein jeder von ihnen täglich Kunst konsumiert, ist ihnen der Künstler, der freiwillig am Existenzminimum knabbert, suspekt. Anerkannt werden Kreative erst dann, wenn sie nach den Spielregeln der Arbeitswelt Erfolg haben: Geld zählt eben ein Vielfaches mehr als Glück.
Wovon hat Christoph Schlingensief eigentlich gelebt, als er die Kunstpartei CHANCE2000 gründete? Wovon lebt gerade die Frau oder der Mann, der die Lücke, die Schlingensief hinterlassen hat, einmal wieder füllen wird? Die Piratenpartei erscheint bisweilen wie das nachfolgende Kunstprojekt der Chancisten, die sich aufmachten die Politik vor den Kopf zu stoßen. Denn genau so wenig ernst nehmen die etablierten Parteien und ihre Kernwähler die jungen Politiker und Aktivistinnen bislang. Bis auf ein bißchen Twittern, ein paar Livestreams und der Simulation von Bürgerbeteiligung hat die öffentliche Wirksamkeit der Piraten in der politischen Sphäre nichts verändert. Den Generationendiskurs sucht man bislang vergeblich. Dass junge Menschen tatsächlich einen durchschnittlich gut bezahlten Arbeitsplatz, trotz Firmen-Smartphone und Betriebskindergarten ablehnen würden, bleibt für die Verfechter der alten Arbeitswelt unvorstellbar. Doch diesem Angebot gegenüber gestellt kann überall unter jüngeren und älteren Menschen das Begehren ausgemacht werden, selbstbestimmter zu arbeiten und zu leben, als die gesellschaftliche Norm es derzeit vorsieht. An diesem Umdenken ist die Kommunikation über das Internet nicht unbeteiligt. Ehrenamtliches und parteipolitisches Engagement werden anders und einfacher zugänglich, Debatten von einer intellektueller Qualität, die im beruflichen Umfeld so nicht stattfinden, werden ermöglicht, kreative Talente toben sich aus und sogar wirtschaftliche Unabhängigkeit kann über digitale Existenzgründungen gesichert werden. Hier wird nicht nur das “Cognitive Surplus” von freiwilliger geistiger Arbeit sichtbar, wie Clay Shirky es in seinem gleichnamigen Buch beschrieb – das digitale Zusammenleben, miteinander denken und arbeiten gibt vielen zurück, was ihnen Ausbildung und ihre Arbeit vorher genommen hatten: Selbstvertrauen, Wertschätzung, Denkanstöße, Zugehörigkeit und Freiheit.
Dieser Gesellschaft ist zu wünschen, dass die Zukunft der Arbeit ihre neue Form über das “Nein” beginnt. Ein “Nein” zur Gleichstellung, sofern sie für alle Geschlechter nur ein grobes Ungleichgewicht von notwendigem Geldverdienen, Gesundheit und Zufriedenheit vorsieht. Dafür ein “Ja” zu einem Verständnis von Arbeit, dass endlich die Formen der gesellschaftlichen Beiträge miteinschließt, für die sich bislang niemand die Arbeit gemacht hat, ihren Geldwert zu ermitteln. Ein “Ja” dazu, nicht mehr zu beschäftigt, zu erschöpft oder zu borniert zu sein, um die bislang unbezahlte Arbeit anzuerkennen. Und ein großes Fragezeichen an die Vereinbarkeit des Menschenbilds einer aufgeklärten Gesellschaft mit der Praxis des “Existenzminimums”.