Deus ex Machina

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Verdächtige Verweigerungshaltung

Der Attentäter von Aurora hatte sich aus Facebook und anderen Netzdiensten herausgehalten. Schon wird die Frage ventiliert, ob man sich mit Social-Media-Abstinenz künftig verdächtig macht.

Der Attentäter von Aurora hatte sich aus Facebook und anderen Netzdiensten herausgehalten. Schon wird die Frage ventiliert, ob man sich mit Social-Media-Abstinenz künftig verdächtig macht.

Der Pulverdampf von dem Attentat im Kino von Aurora/Colorado war kaum verzogen, als sich Ermittler und fast zeitgleich auch normale Netzbürger im Internet auf Spurensuche nach dem Täter machten. Sonderlich viel findet sich nicht zu diesem James Holmes, eine Jobsuche bei monster.com, ein Pseudonym, benutzt in Waffenforen und Rollenspielerkreisen, ein Profil bei Adult Friend Finder und einer weiteren Kontaktbörse. Darüber hinaus gab es wohl zwei gelöschte Youtube-Profile, die mit Google-Konten verbunden waren. Aber aus Facebook, Twitter und anderen populären Netzdiensten hatte Holmes sich weiträumig herausgehalten.

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In der New York Times geben Ermittler zu Protokoll: „Niemand hat ihn auf dem Radarschirm, da ist nichts”, der Kerl sei ein Rätsel. Und solche Rätsel lassen Journalistenhirne qualmen. Im Tagesspiegel etwa macht sich die Autorin Katrin Schulze ihren eigenen Reim: Ein 24 Jahre alter US-Amerikaner, ehemaliger Student und Waffennarr offenbar, nicht vernetzt, der keine Bilder tauscht und seine Befindlichkeiten nicht mit der Community teilt. „Das ist nicht nur ziemlich selten, sondern kommt einigen auch ziemlich verdächtig vor”, schreibt Schulze. Wer diese einige sind, wird im weiteren Text nicht so klar. Zumindest verweist die Autorin auf eine Studie von Psychologen aus dem Vorjahr, wonach solches Verhalten auf eine ernsthafte Krankheit hinwiesen könnte. Richard E. Bélanger und seinen Kollegen hätten nämlich herausgefunden, dass junge Menschen, die sich mit ihren Online-Aktivitäten sehr zurückhalten oder das Netz gar nicht nutzen, ähnlich häufig zu Depressionen und anderen psychischen Leiden neigen wie jene, die das Netz exzessiv nutzen. Bei Jugendlichen, die regelmäßig, maximal zwei Stunden täglich, online gehen, sei dies nicht der Fall.

Klingt wirklich alarmierend, hat aber bei Licht besehen mit dem Kino-Attentäter von Colorado oder gar dessen Facebook-Abstinenz nicht so rasend viel zu tun. Die Daten, auf die Béranger und seine Kollegen ihre Untersuchung stützen, stammen aus einer Befragung von Schweizern im Alter zwischen 16 und 20 Jahren – und zwar aus dem Jahre 2002. Facebook und andere soziale Plattformen waren da noch gar kein Thema, in der Studie geht es um Internetnutzung ganz allgemein. Ob Holmes das Internet abgesehen von seinen überschaubaren Social-Media-Aktivitäten wenig, mäßig oder exzessiv viel genutzt hat, darüber ist zur Stunde nichts bekannt. Folglich gibt diese Studie auch nichts her, was Spekulationen über etwaige Zusammenhänge zwischen dem Internet-Nutzungsverhalten von James Holmes und seinem Geisteszustand erhärten könnte. Zumal die Studie letztlich nicht mehr behauptet als „eine U-förmige Verbindung zwischen der Intensität der Internetnutzung und schlechterer psychischer Verfassung”. Sprich: Wir haben hier (wie so oft in diesem Blog) mal wieder mit Korrelationen zu tun – und nicht mit Kausalitäten.

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Nun hat sich freilich auch die Tagesspiegel-Kollegin nicht zu der Behauptung verstiegen, wer sich aus dem Internet heraushalte, habe einen an der Klatsche. Aber ihr Bemühen, einen zunehmenden Generalverdacht gegen Facebook-Verweigerer zusammenzukonstruieren, lässt schon staunen: Da müssen dann „Personalabteilungen in den USA” herhalten, immerhin soll es da vorgekommen sein, dass Chefs von ihren Bewerbern die Zugangsdaten für ihr Profil verlangt hätten. Die Folge: kein Profil – kein Job, denn der Bewerber habe ja etwas zu verbergen. So weit gehe es hierzulande noch nicht (und man fragt sich insgeheim, ob die Autorin das mit Erleichterung oder eher Bedauern vermeldet). Aber laut Auskunft eines Hannoveraner Psychologen erkundigten sich auch in Deutschland 70 bis 80 Prozent der Personaler nach den Bewerbern im Netz. Na schön, aber da würde man schon gern genauer wissen, welche Schlüsse sie dann ziehen. Bislang wurde in der Presse ja meistens das Narrativ bedient, Leute, stellt keine peinlichen Saufbilder von Euch ins Netz, wenn Ihr einen tollen Job wollt. Auf fischfresse.de hatte voriges Jahr ein Beitrag diese gängigen Sorgen satirisch hoppgenommen und den Spieß mal umgedreht: „Sie sind froh, dass keine kompromittierenden Fotos von Ihnen im Internet zu finden sind? Niemand hat Sie betrunken auf einer Party fotografiert und die Bilder auf Facebook gepostet? Sie googlen Ihren Namen und finden – nichts? Für Ihre berufliche Zukunft sieht es schlecht aus!” Fischfressen-Betreiber Michael Stein zitierte in seinem Beitrag sogar aus einer (fiktiven) Studie der John Hopkins University, wonach Menschen, die jünger als 50 Jahre alt sind und von denen keine Spuren im Internet zu finden sind, signifikant eher kriminell oder ernsthaft psychisch krank seien als Personen, über die man viel in Sozialen Netzwerken und Communities lesen kann.

Das mag überzeichnet gewesen sein, aber wie der Tagesspiegel-Artikel eindrucksvoll belegt, hat die Richtung durchaus gestimmt. Dieses Paradigma „Oute Dich im Sinne der Gemeinschaft” ist auch kein reines Netzphänomen, wie ein gleichnamiger Mehrteiler im Online-Magazin Telepolis beschreibt: Früher sei Sexualität ein Tabu gewesen, heute würde alles, was damit zusammenhängt, in der Kassenschlange im Supermarkt diskutiert. Und wer da nicht mitreden mag, werde schnell in die Spießer-Ecke gesteckt. So ähnlich läuft das mit den Social Networks jetzt anscheinend auch: Wer da nicht mittun will, wird pathologisiert und zum in die Spinner-Ecke gesteckt, gar zum potenziellen Amokläufer, schließlich hat sich auch der norwegische Massenmörder Anders Breivik nicht bei Facebook & Co. mit Freunden ausgetauscht.

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Was ihm da alles an potenziell Gutem und Heilsamem entgangen sein mag, beschreibt Sascha Lobo in seiner aktuellen Kolumne zum Lobe der Geselligkeitsplattformen: Dort gebe es „eine bisher ungesehene, tatsächlich neue Vermischung von persönlicher Kommunikation und Öffentlichkeit”, eine neue Qualität gar. Wenn die sozialen Medien nun ermöglichen, in die Köpfe und Gespräche hineinzusehen, sorgt diese digitale Nähe nicht für mehr Toleranz von Andersartigkeit – so wie eine Art Konfrontationstherapie für Intolerante? Lobo sieht mit diesen Entwicklungen ein neues Gesellschaftsbild am Entstehen, das er „Okayheit” nennt und das sich aus verschiedenen Komponenten wie Resignation, Toleranz, Desinteresse, Empathie und Gleichgültigkeit zusammensetzt.

Das schöne Gemälde blendet aber aus, dass man sich auf Facebook, Twitter und Co. doch nicht zuletzt mit Leuten vernetzt, die ähnlich ticken und man sich lange in seiner Filterbubble bewegen kann, ohne mit allzu vielen abweichenden Meinungen und Ansichten konfrontiert zu sein. Im Prinzip hätten doch vor Facebook, werkenntwen & Co. auch schon Foren und Blogs diese Entwicklung voranbringen müssen, uns toleranter zu machen. Aber wenn diese Verklärung der sogenannten sozialen Medien so weit geht, dass jeder, dem für dieses elektronische Eiapoeia seine Zeit zu schade ist, zum Spinner und potenziellen Massenmörder abgestempelt wird, dann ist das der gesamtgesellschaftlichen Toleranz und der Okayheit auch nicht gerade förderlich.